Frühe Förderung von Kindern mit Legasthenie
Schätzungen zufolge ist etwa jeder zwölfte Deutsche von einer Lese- und Rechtsschreibschwäche betroffen. Mit mangelnder Intelligenz hat die Störung nichts zu tun. Experten weisen darauf hin, dass Betroffene eine möglichst frühe Förderung brauchen.
Jeder zwölfte Deutsche betroffen
Millionen Menschen in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben. Laut Experten-Schätzungen leidet etwa jeder zwölfte Bundesbürger an Legasthenie. Fachleute weisen darauf hin, dass die Lese-Rechtschreib-Schwäche nichts mit mangelnder Intelligenz zu tun hat und für Betroffene bereits in jungen Jahren eine gezielte Förderung wichtig ist. Vor wenigen Monaten ist eine neue Legasthenie-Leitlinie erschienen, die erstmals klare fächerübergreifende Handlungsempfehlungen zur Diagnostik und Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Lese- und/oder Rechtschreibstörungen geben.
Legasthenie hat nichts mit mangelnder Intelligenz zu tun
In der medizinisch-psychologischen Fachwelt werden die Störungsbilder in Lese-, Rechtschreib- und Lese-Rechtschreibstörung unterschieden. Laut dem Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie sind bis zu acht Prozent der Kinder und Erwachsenen von Legasthenie betroffen. Und unter Dyskalkulie leiden dem Verband zufolge bis zu sieben Prozent der Bevölkerung. Bei dieser Rechenschwäche kommen Betroffene unter anderem mit den Grundrechenarten nicht klar. Außerdem fehlt ihnen das grundlegende Verständnis für Mengen, Gewichts- und Maßeinheiten. Beide Störungen rühren nicht daher, dass die Betroffenen dümmer sind, wie früher manchmal angenommen wurde. Mittlerweile ist bekannt, dass genetische Dispositionen eine große Rolle spielen, berichtet das „Hamburger Abendblatt“. Professor Gerd Schulte-Körne, Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Uniklinikum München, sagte laut der Zeitung: „Betroffene weisen Veränderungen zum Beispiel auf Chromosom 2, 6, 15 oder 18 auf – umgekehrt bekommt allerdings nicht automatisch eine Legasthenie, wer diese Veränderungen hat. Sie erhöhen nur das Risiko.“ Zudem lasse sich bei Betroffenen eine verminderte oder verlangsamte Aktivität in Hirnarealen nachweisen, die für die Worterkennung zuständig sind.
Lese-Rechtschreib-Schwäche wird nicht immer früh erkannt
Beim Erlernen von Lesen und Schreiben begreift man, dass Buchstaben Laute zugeordnet sind und dass daraus Silben und schließlich Wörter gebildet werden können. „Diese Fähigkeit ist evolutionsbiologisch betrachtet recht jung“, so Schulte-Körne. Je nach Form und Ausprägung macht sich Legasthenie dadurch bemerkbar, dass die Kinder Probleme haben, beim Lesen einzelne Buchstaben und Lautkombinationen zu entschlüsseln. Oder auch dadurch, dass sie beim Schreiben scheinbar willkürlich Buchstaben vertauschen. „Die gleichen Worte werden auf unterschiedliche Art falsch geschrieben – sie können nicht richtig abgespeichert werden“, erklärte Annette Höinghaus, Sprecherin des Bundesverbandes Legasthenie und Dyskalkulie. In der Vergangenheit wurde dies auch „Wortblindheit“ genannt.
Legasthenie wird oft nicht gleich zu Beginn der Schulzeit entdeckt. Manche Kinder entwickeln Strategien, um nicht aufzufallen: „Sie kompensieren die Schwäche, indem sie Wörter und ganze Texte auswendig lernen“, erläuterte Schulte-Körne. Manche pädagogische Konzepte wie das „lautgetreue Schreiben“ tun ihr Übriges: Dabei werden Worte nach Gehör geschrieben, Rechtschreibregeln spielen keine Rolle. Kinder sollen so schnelle Erfolge erzielen, um dann später behutsam umzulernen. Aber gerade das bedeute für die kleinen Legastheniker „unnötige Irritationen“, weil sie zwar hören wie alle anderen, die Wortverarbeitung im Gehirn aber gestört ist, sagte Annette Höinghaus.
Sprache mit klaren Regeln beibringen
Dieser Kinder lernen der Expertin zufolge besser, wenn ihnen die Sprache logisch und mit klaren Regeln beigebracht wird, sodass sie sich an systematischen Herleitungen orientieren können. „Natürlich gibt es auch Wörter, die keiner Regel folgen, die etwa gleich klingen, aber unterschiedlich geschrieben werden“, erläuterte Annette Höinghaus. Dann helfe nur stures Auswendiglernen. Vielen Fachleuten fällt es jedoch schwer, eindeutige Empfehlungen abzugeben. Im vorigen Jahr veröffentlichten deutsche Wissenschaftler Ergebnisse ihrer Studie, bei der verschiedene Förderansätze untersucht wurden, mit denen dem Problem begegnet wird. Nur eine Methode konnte eindeutig belegbare Erfolge vorweisen: die sogenannte „phonics instruction“. Es geht dabei vor allem um das intensive Üben der Laut-Buchstaben-Zuordnung, zusammen mit einem kontinuierlichen Training des Leseflusses.
Betroffenen fehlt oft die richtige Unterstützung in der Schule
Theoretisch sind Kinder mit Legasthenie von ihren kognitiven Leistungen her durchaus in der Lage, hohe Schulabschlüsse zu schaffen und zu studieren. Doch praktisch fehle den Experten zufolge häufig die richtige Unterstützung in der Schule. „Es scheitert oft nicht einmal am Willen der Lehrer, sondern daran, dass sie mit den Fördermöglichkeiten nicht vertraut sind“, so Höinghaus. Jedes Bundesland hat seine eigenen Regelungen, in manchen endet die Förderung bereits nach der Grundschule. „Bei leichten Verlaufsformen lassen sich die Probleme zwar in einen unauffälligen Bereich bringen“, erläuterte Höinghaus, „bei mittleren bis schweren Verlaufsformen wird das jedoch in Stresssituationen immer wieder aufbrechen – auch im Erwachsenenalter.“ Typische Begleiterscheinungen von Legasthenie wie Ängste und Depressionen sind meist dem hohen Druck und der mangelnden qualifizierten Unterstützung geschuldet.
Deutsche Krankenkassenzahlen nicht für Therapie
Für Kinder mit Legasthenie ist es wichtig, ihr Handicap zu akzeptieren. Eltern können sie dabei unterstützen, indem sie „vorhandene Kompetenzbereiche stärken, anstatt auf die Defizite zu schauen“, empfiehlt Schulte-Körne. Sie sollten frühzeitig professionelle Hilfe suchen, so Annette Höinghaus. Der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie bietet auf seiner Internetseite eine gezielte Therapeutensuche je nach Wohngebiet an. Der Verband unterstützt Betroffene auch bei der Suche nach Finanzierungsmöglichkeiten. In Deutschland weigern sich die Krankenkassen bislang die Lese-Rechtschreib-Schwäche als Krankheit anzuerkennen, da diese den Kassen nach, nicht „die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt.“
In Einzelfällen kann auch ein Antrag auf sogenannte Eingliederungshilfe gestellt werden, etwa wenn die seelische Gesundheit des Kindes gefährdet ist. Wird dieser bewilligt, springt das Jugendamt finanziell ein. Laut dem Diplom-Pädagogen Sebastian Bertram aus Hannover ist die frühe Hilfe von großer Bedeutung. Bereits vor Jahren erklärte er gegenüber „heilpraxisnet.de“: „Legasthenie ist kein Anzeichen für mangelnde Intelligenz. Sie ist lediglich eine Lese- und Rechtschreibschwäche, die gut therapiert werden kann, wenn damit rechtzeitig begonnen wird.“ (ad)
Autoren- und Quelleninformationen
Wichtiger Hinweis:
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