Diagnose ADHS: Zu oft und zu oft falsch
07.02.2012
Bei der kürzlichen Veröffentlichung des Arztreports 2012 der Barmer GEK wird ADHS (Aufmerksamkeitsstörung mit Hyperaktivität) als eine "neue Kinderkrankheit" erwähnt, die im Vormarsch und obendrein teuer sei. Dass ADHS eine spezifische, gar "neue" Kinderkrankheit sei, darf allerdings nach wie vor erheblich bezweifelt werden. Die bisherige Forschung lässt die Frage der Spezifität einer Krankheit namens ADHS weiter offen. ADHS ist vielmehr ein diagnostischer Sammeltopf vieler ganz unterschiedlicher anderer Störungen. Etwas überspitzt lässt sich sagen, dass es ADHS ohne Ritalin schon lange nicht mehr gäbe, wie seinerzeit die Modediagnose MCD (Minimale Cerebrale Dysfunktion). Und was die Zunahme der Diagnose anbelangt: Bereits im Jahr 2000 fand man, dass mehr als die Hälfte der ADHS-Diagnosen bei Kindern nicht den Diagnoserichtlinien entsprach und damit falsch war. Fast 75 Prozent der Kinder, die mit Methylphenidat behandelt wurden, hatten eine falsche ADHS-Diagnose (Angold 2000). Im Jahre 2010 berichtete Todd Elder nach der Untersuchung der Daten von 12 000 Kindern, dass es in USA wahrscheinlich 1 Million Kinder mit einer falschen ADHS-Diagnose gibt.
Und nun wurde in diesen Tagen in der Schweiz untersucht, ob sich Fachleute an die offiziellen Diagnoserichtlinien halten, wenn sie gebeten werden, eine ADHS-Diagnose bei Kindern zu stellen. Im Unterschied zu den vorgenannten Studien, in denen bereits existierende Diagnosen nachgeprüft wurden, wurden hier die Diagnostiker direkt zu vorgegebenen Fallvignetten befragt, was sicherlich ein besonders strenges Kriterium darstellt. Und dennoch stellten auch hier 17 % der 1000 einbezogenen Diagnostiker falsche Diagnosen, bei Jungen sogar doppelt so häufig wie bei Mädchen, obwohl die Symptomatik dieselbe war. Auch sonst gibt es einen Wildwuchs an ADHS-Diagnostik, die mangelnde Reliabilität und Objektivität der Diagnosepraxis ist hinreichend belegt. Manche Diagnostiker orientieren sich an ihrem Bauchgefühl, andere immer noch an Methylphenidat als Diagnostikum nach dem Motto: wenn es wirkt, ist es eben ADHS. ADHS wird viel zu oft und zu oft fasch diagnostiziert. Die Diagnose macht blind für psychologische Zusammenhänge. (Dipl.-Psych. Hans-Reinhard Schmidt
Psychologischer Psychotherapeut, Konferenz ADHS)
Anhang:
Angold A, Erkanli A, Egger H.L, Costello E.J. (2000): Stimulant treatment for children: a community perspective. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry. 2000 Aug;39(8):975-84.
Bruchmüller K, Margraf J, Schneider S. (2012): Is ADHD diagnosed in accord with diagnostic criteria? Overdiagnosis and influence of client gender on diagnosis. J Consult Clin Psychol. 2012 Feb;80(1):128-38.
Elder, T.E. (2010): The importance of relative standards in ADHD diagnoses: evidence based on exact birth dates. J Health Econ. 2010 Sep;29(5):641-56.
Schimanski, H-Chr.(2012): http://www.schimansky-netz.eu/formulare/aussenfiltertest-bei-adhs.pdf Winkler, M. (2012): http://adhsspektrum.wordpress.com/2012/01/03/was-ist-adhs-und-was-nicht/
Bild: Alfred Heiler / pixelio.de
Autoren- und Quelleninformationen
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.