Experten warnen vor „Generation ADHS“
11.02.2013
Bei fast 20 Prozent aller Jungen und 7,8 Prozent der Mädchen des Geburtsjahrgangs 2000 wurde zwischen 2006 und 2011 ADHS diagnostiziert. Das ergab der „Arztreport 2013“ der Krankenkasse Barmer GEK, in dem von der „Generation ADHS“ die Rede ist.
ADHS-Diagnosen dürften nicht aus dem Ruder laufen. Pillen gegen Erziehungsprobleme seien der falsche Weg, kommentierte Dr. Rolf-Ulrich Schlenker, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Barmer GEK, das Ergebnis der Untersuchung. Vor allem in Würzburg werden dem Arztreport 2013 zufolge häufig ADHS-Diagnosen gestellt. Professor Dr. Marcel Romanos, Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Universität Würzburg, warnt jedoch vor voreiligen Rückschlüssen. Die Ergebnisse seien nicht uneingeschränkt generalisierbar. Der ADHS-Experte sieht zudem eine Gefahr darin, eine Inkompetenz der Eltern als Ursache für die Probleme ihrer Kinder verantwortlich zu machen. Untersuchungen hätten gezeigt, dass ADHS vor allem genetisch bedingt sei.
ADHS – das „Zappelphilipp-Syndrom“
Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zählt zu den häufigsten kinderpsychiatrischen Störungen und äußert sich durch Probleme mit der Aufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität. Betroffene Kinder können sich nicht gut konzentrieren, bringen Aufgaben häufig nicht zu ende, wechseln häufig die Beschäftigung, leiden an Nervosität und innerer Unruhe und fallen im Unterricht als „Zappelphilipp“ auf. Bei Kindern, die an ADHS leiden, können zudem Entwicklungsstörungen beim Lernen oder im sozialen Verhalten auftreten. ADHS wird von Psychiatern als nicht heilbar eingestuft.
Die genauen Ursachen von ADHS sind noch nicht abschließend geklärt. Zu den begünstigenden Faktoren von ADHS gelten während der Schwangerschaft stattfindende Belastungen mit Alkohol und Nikotin, Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen, ein erniedrigtes Geburtsgewicht, Infektionserkrankungen, verschiedene Schadstoffe und Umweltgifte sowie Krankheiten und Verletzungen, die das zentrale Nervensystem betreffen. Experten sprechen von einer multifaktoriellen Verursachung von ADHS, bei der biologische, psychische und soziale Faktoren zusammenwirken. Auch genetische Ursachen spielen eine wichtige Rolle.
Ursache von ADHS vor allem genetisch bedingt
Wissenschaftler von der Universität Cardiff in Wales stellten bereits 2010 einen Zusammenhang zwischen der Entstehung von ADHS und dem Erbgut her. Für ihre Studie verglichen die Forscher das Erbgut von 366 Kindern mit einer ADHS-Diagnose mit der DNA von 1047 gesunden Menschen. Dabei stellte sich heraus, dass doppelt so viele der ADHS-Kinder (15 Prozent) im Vergleich zu den gesunden Kindern (7 Prozent) eine deutliche und seltene Veränderungen ihrer DNA aufwiesen. Anita Thapar, Professorin für neuropsychiatrische Genetik an der Universität Cardiff und Leiterin der Studie, berichtete, dass ADHS häufig nicht nur bei einem Familienmitglied auftrete, so dass der Verdacht nahegelegen hätte, dass auch eine erbliche Ursache für ADHS verantwortlich sei. Die Studie habe diese Vermutung bestätigt.
Der Unterschied im Erbgutes von gesunden Kindern und ADHS-Patienten bestehe im wesentlichen in Abweichungen bei den sogenannte Genkopiezahlvarianten (copy number variants, CNV), erläuterten der Wissenschaftler. ADHS-Kinder verfügten häufiger über defekte DNA-Strukturen. Einige Teile seien doppelt oder fehlen vollständig. Experten vermuten bereits seit Längerem einen Zusammenhang zwischen CNV und einer Prädisposition für bestimmten Erkrankungen wie zum Beispiel Schizophrenie.
Arztreport: Kinder von Arbeitslosen haben häufiger ADHS
Dem Ärztereport der Barmer GEK zufolge gibt es einen dramatischen Anstieg der ADHS-Diagnosen. Im Zeitraum von 2006 bis 2011 soll sich demnach die Zahl Fälle um 42 Prozent erhöht haben. Vor allem Kinder aus Familien, die über ein geringes Einkommen verfügen, seien betroffen. Noch höher sei das Risiko, wenn die Eltern arbeitslos sind, heißt es in dem Bericht. Zudem sinke das Risiko für ADHS, desto besser das Ausbildungsniveau sei. „Wir müssen aufpassen, dass ADHS-Diagnostik nicht aus dem Ruder läuft und wir eine ADHS-Generation fabrizieren. Pillen gegen Erziehungsprobleme sind der falsche Weg", warnt Dr. Rolf-Ulrich Schlenker, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Barmer GEK.
Professor Dr. Marcel Romanos kritisiert Aussagen wie diese scharf. Im Gespräch mit der „Mainpost Würzburg“ berichtet er, dass es leider häufig bezweifelt werde, „dass ADHS eine Erkrankung ist“. In der öffentlichen Diskussion würden oft Erziehungsfehler als Ursache für ADHS genannt werden.
„Der leichtfertige Vorwurf, die ADHS liege an der Inkompetenz der Eltern, wird der Situation jedoch in keinster Weise gerecht. Familien müssen sehr viel auf sich nehmen, um ihren betroffenen Kindern zu helfen, und stoßen dabei häufig an die Grenze ihrer Belastbarkeit. Viele Familien zerbrechen sogar an dieser Problematik“, so der Experte.
Überforderte Lehrer, zu wenig Bewegung und zu hoher Medienkonsum werden ebenfalls häufig als Ursachen angeführt. Romanos sieht jedoch vor allem eine genetische Veranlagung als Auslöser von ADHS. Studien an eineiigen und zweieiigen Zwillingen hätten den Zusammenhang zwischen dem Erbgut und der Erkrankung zweifelsfrei bewiesen. Bei 80 Prozent der eineiigen Zwillinge mit identischem Erbgut seien beide Kinder betroffen, bei zweieiigen nur 30 Prozent. Bei etwa einem Drittel der ADHS-Kinder sei auch ein Elternteil betroffen.
ADHS-Forschung an der Würzburger Uniklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie
Die Uniklinik Würzburg habe einen Schwerpunkt auf die ADHS-Forschung gelegt, berichtet der Klinikdirektor. Zum einen gehen es darum, die Ursachen der Störung zu erforschen, zu denen nicht nur die genetischen sondern auch umweltbedingte Faktoren gehören. Zum anderen konzentriere man sich auf die Therapie der Betroffenen und ihrer Familienangehörigen. Auch sogenannte Biomarker, biologischen Faktoren, würden erforscht, um eine bessere Diagnose und Prognose stellen zu können. Hinzu kämen die psychologischen Faktoren, die ebenfalls in Würzburg untersucht würden. Erst kürzlich sei eine große psychologische Studie abgeschlossen worden. Als vorläufiges Ergebnis, so berichtet Romanos, könne die Erkenntnis genannt werden, dass betroffenen Familien besonders effektiv geholfen werde, wenn auch ihre Umfeld mittherapieret wird. Demnach genüge es nicht, die Behandlung auf betroffene Kind zu beschränken. Es müsse auch geprüft werden, ob weitere psychische Erkrankungen innerhalb der Familie vorliegen. Es sei keine Seltenheit, dass auch die Mutter von ADHS betroffen ist, so der Experte. Deshalb würde derzeit untersucht werden, ob die Kinder auch von der Behandlung der Symptome der Mütter profitieren. Das sei weltweit die erste Untersuchung dieser Art.
Behandlung gegen ADHS besteht aus Kombination psychotherapeutischer Maßnahmen
Um die betroffenen Kinder und ihre Familien bestmöglich zu beraten, erfolgt nach der Diagnosestellung zunächst eine intensive Aufklärung über das Störungsbild von ADHS. Anschließend folgen verschiedene verhaltenstherapeutische Maßnahmen, berichtet Romanos. Eine medikamentöse Behandlung, beispielsweise mit Psychostimulanzien wie Methylphenidat (Ritalin) komme nur in schweren Fällen von ADHS in Frage. Kinder, die kein Ritalin benötigten, würden auch keines bekommen. Das Mittel wirke jedoch am stärksten gegen die Kernsymptome bei ADHS-Kindern.
Die besten Ergebnisse seien erzielt worden, wenn Kinder, die ein Medikament erhielten, parallel eine Verhaltenstherapie absolvierten. Vor allem bei Betroffenen, die neben ADHS an weiteren psychischen Erkrankungen wie Depressionen litten, sei ein starker Effekt der verhaltenstherapeutischen Maßnahmen zu beobachten. Psychiatrische Begleiterkrankungen seien bei ADHS keine Seltenheit. Die Kinder, die nur an ADHS litten, hätten jedoch keinen zusätzlichen merklichen Effekt durch die Verhaltenstherapie gezeigt, so der Klinikdirektor. Obwohl es wenig wissenschaftliche Belege für die Wirksamkeit von Verhaltenstherapie bei einer reinen ADHS-Störung gebe, werde sie in den Leitlinien empfohlen. Dagegen sei die Wirksamkeit von Ritalin eindeutig nachgewiesen.
Ritalin bei ADHS ist umstritten
Dem Arztreport 2013 der Krankenkasse Barmer GEK zufolge hat sich die Verschreibungshäufigkeit von Methylphenidaten (Ritalin) in ähnlicher Weise erhöht wie steigende Zahl der ADHS-Diagnosen, wobei die Menge der Tagesdosen nach 2010 erstmals rückläufig war. Allein im Jahre 2011 wurde Ritalin 336.000 mal verschrieben. Am häufigsten erhielten Kindern im elften Lebensjahr das Medikament. Demnach nehmen mindestens 10 Prozent der Jungen und 3,5 Prozent der Mädchen mindestens einmal in ihrem Leben ein Mittel gegen ADHS ein. Die Kasse sieht diese Entwicklung höchst kritisch. „Ritalin darf nicht per se das Mittel der ersten Wahl sein“, mahnt der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Barmer GEK.
Auch Romanos spricht sich ausdrücklich „gegen eine nicht-indizierte Verordnung von Ritalin“ aus. Eine Diagnose müsse klar und eindeutlich gestellt werden. Bei einer leichten Form von ADHS sei eine psychotherapeutische Behandlung ohne Medikament häufig ausreichend. Bei schweren Fällen sei jedoch Ritalin notwendig. Die Diskussion und vor allem die Ablehnung des Medikaments würden in erster Linie Menschen betreffen, die noch nie ein ADHS-Kind behandelt hätten und nicht selbst betroffen seien. Diese einseitige Sichtweise gehe jedoch an den Interessen und Bedürfnissen der Betroffenen vorbei. Sogar Selbsthilfegruppen würden Ritalin befürworten, berichtet der Mediziner.
Den Vorwurf der Barmer GEK, dass in der „ADHS-Hochburg Würzburg“ möglicherweise zu schnell zu Ritalin gegriffen werde, weißt Romanos entschieden zurück. Er sieht ein hohes Maß an ärztlicher Kompetenz in Unterfranken. Ein fahrlässiges Handeln der Ärzte schließt der Mediziner aus. Trotz guter Versorgung der ADHS-Patienten, komme es zu langen Wartezeiten. Es bestehe also keine Notwendigkeit, „überflüssigerweise eine ADHS-Diagnose zu stellen“. In Unterfranken werde nicht prozentual häufiger Ritalin verordnet als in anderen Regionen Deutschlands. Das zeige auch der Arztreport. Die Verschreibungshäufigkeit von Ritalin sei zwischen 2011 und 2012 nicht gestiegen. Jedoch habe sich die Zahl der Diagnosestellungen für ADHS sowie die Medikamentenverordnung bei Erwachsenen erhöht.
„ADHS-Hochburg Würzburg“ liegt international im Mittelfeld
Der Klinikdirektor ärgert sich über den Report der Barmer GEK. Die Diagnoserate von ADHS von 4,14 Prozent bei Kindern und Jungendlichen ordnet Romanos im internationalen Vergleich im Mittelfeld ein. Es sei nicht erkennbar, dass Ärzte zu leichtfertig eine entsprechende Diagnose stellen würden. In Würzburg würde sich die Zahl der Diagnosefälle häufen, weil die Uniklinik sowie die niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiater ein fachärztliches Zentrum für ADHS bilden, das möglicherweise eine Diagnose stellen könne, die anderenfalls nicht erkannt würde. Es kämen sogar viele Familien aus anderen Bundesländern in die Klinik. Diese würden zwar nicht im Arztreport auftauchen, andererseits fehlten aber auch die Privatversicherten sowie die Daten der anderen gesetzlichen Krankenkassen. Es handele sich bei dem Report lediglich um eine Sekundärdatenanalyse und weder um eine wissenschaftliche Studie oder eine epidemiologische Untersuchung. Romanos sieht hinter dem Report möglicherweise ein politisches Instrument, mit dem psychische Erkrankungen generell in Zweifel gezogen werden sollen.
Ergotherapie bei ADHS nicht sinnvoll
Bei der Betrachtung der Kosten, die für die Behandlung von ADHS anfallen, zeigt sich laut Arztreport, dass für Ritalin nur etwa zehn Prozent der Behandlungskosten anfallen. Psycho- und Ergotherapie seien deutlich teurer, erläutert Romanos. Dabei sei bereits bekannt, dass Ergotherapie keinen Effekt auf ADHS hat. Andere Länder hätten sie deshalb aus ihrem Behandlungskatalog gestrichen. Alternativen zu einer medikamentösen Therapie wie Neurofeedback müssten weiter erforscht werden. Dort sei die Datenlage noch sehr schlecht.
Die Diskussion über Ritalin hat laut Romanos in erster Linie etwas mit der Bewertung psychischer Erkrankungen in unserer Gesellschaft zu tun. Patienten mit einer Gallenkolik, die sie von fettreichem Essen und zu viel Alkohol bekommen hätten, würden nicht stigmatisiert werden. Bei psychischen Erkrankungen wie Depressionen, die Betroffene ohne eigenes Verschulden bekommen hätten, würde jedoch die Schuldfrage gestellt werden. Es sei nicht akzeptiert, „dass psychische Erkrankungen jeden treffen können und somit ein Teil unserer Gesellschaft sind“, kritisiert der Mediziner. Es sei wichtig, dieser Entwicklung entgegen zu treten. Häufig würden im Zusammenhang mit ADHS Anschuldigungen an die Eltern fallen, weil sie sich nicht um ihre Kinder kümmerten, zu viel ferngesehen wird oder die Bewegung fehle. Vorurteile wie diese würden jedoch zur Bagatellisierung von ADHS beitragen und die betroffenen Familien diffamieren. (ag)
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Bild: Nicole Celik / pixelio.de
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