Deutsche Psychiater kritisieren die Neuauflage des US-Diagnose-Handbuchs für psychische Krankheiten
18.04.2013
Renomierte Neurologen und Psychiater kritisieren das neue Handbuch der psychischen Krankheiten der American Psychiatric Association (APA). In diesem Zusammenhang sprechen sie von einem „geradezu inflationären Gebrauch von Diagnosen psychischer Störungen“. So sei bereits laut des Handbuchs eine Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen, die länger als zwei Wochen anhält, eine behandlungswürdige psychische Erkrankung, weil die Trauerempfindung dann in eine Depression mündet.
Findet eine „Inflation der Diagnosen“ statt? Psychiater und Psychotherapeuten in Deutschland kritisieren das neue US-Handbuch. Darin steht unter anderem, dass eine „verlängerte Trauer“ in eine Krankheit mündet. Würden Traurigkeit, Appetitlosigkeit, Konzentrationsstörungen und Apathie länger als 14 Tage nach einem Trauerfall anhalten, so spricht das neue Diagnosesystem von einer depressiven Episode, die behandelt werden sollte.
Im Mai diesen Jahres soll die Neuauflage des Krankheitenkataloges der American Psychiatric Association (APA) veröffentlicht werden. Sie stellt mittlerweile die fünfte Ausgabenversion des des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, kurz DSM-5, dar. Laut einer Vorabveröffentlichung wird den Medizinern und Psychotherapeuten empfohlen, eine depressive Verstimmung nach dem Todesfall eines geliebten Menschen nach 14 Tagen als eine mögliche Depression anzusehen und zu behandeln. Bislang galt die Trauer über den Verlust einer nahestehenden Person als emotionaler Ausnahmefall.
Renomierte Psychiater kritiseren Neuauflage des Handbuchs
Angesehene Psychiater wie Allen Frances von der amerikanischen Duke-Universität warnen seit einiger Zeit vor einer Inflation der Diagnosen im Bereich der Psychischen Erkrankungen. Nach der Veröffentlichung der Vorabinformationen hat sich nun auch die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) in die Debatte eingemischt. Nach Ansicht der Psychiater sei das „US-Handbuch zwar keine direkte Richtschnur für das Wirken der Psychiater in Deutschland“, es könne aber indirekt Einfluss für die Neuauflage des Klassifikationssystems der Krankheiten von der Weltgesundheitsorganisation haben, so die Befürchtung. Die Klassifikation ist in Deutschland auch bekannt als ICD-10 und ist maßgeblich bei der Diagnostik.
Der DGPPN-Präsident Wolfgang Maier von der Uni Bonn und seine Kollegen Peter Falkai aus München und Andreas Heinz von der Berliner Charité kritisieren beim Thema Trauer, dass das DSM-5 „das in der Regel natürliche Nachlassen der Trauerempfindung und die meistens erhaltene Fähigkeit zur Selbstregulation“ außer Acht lasse. Das könne dann dazu führen, dass eine Reihe von Patienten zu Unrecht die Diagnose „Psychische Störung“ erhalten. Das wiederrum könne nach Ansicht der Psychiater dazu führen, dass Patienten mit ausgeprägten psychischen Störungen keine adäquate Hilfe mehr bekommen.
Ein weiterer Kritikpunkt ist die im Alter größere werdende Gedächtnisschwäche, die im DSM-5 bei undramatischen Verläufen ebenfalls einen Krankheitswert erhalten. Hier gebe es die neue Diagnose „minore neurokognitive Störung“ (geringe geistige Fehlfunktion). Hier gebe es keine „wirksamen Therapie“ und auch deshalb sei es nach Ansicht der Kritiker nicht richtig, „Formen der Vergesslichkeit“ als Erkrankung anzusehen.
Im Fadenkreuz der Kritik steht auch die sogenannte „Substanzgebrauchsstörung“. Diese Diagnose sei eine „Sammeldiagnose“ für Süchte, in der der gesundheitsschädliche Gebrauch von Genussmitteln und eine echte Abhängigkeiten zusammengefasst sind. Bei dieser neuen Diagnoseform fürchten die Mediziner, dass die Grenze zwischen dem Genuss von Alkohol der soziale Probleme zur Folge haben könnte, mit der echten Sucht vermischt wird.
Die Kritiker der DGPPN betonen jedoch, dass einige im DSM-5 aufgeführten Diagnosen „keinen Krankheitswert besitzen und zum normalen Leben dazugehören“. Auch etwa positives konnten die Experten dem Handbuch abgewinnen. So gebe es Beschwerden, die in der neuen Ausgabe nicht mehr als eigene Krankheit aufgeführt sind. Hierunter fällt auch das sogenannte „Burnout-Syndrom“, dass in Deutschland medial stark beachtet wird. Das „Ausgepowert-Syndrom“ sei vielmehr eine Depression. In der Leistungsgesellschaft werde jedoch lieber „Burn-Out“ verwendet, weil dies auch eine hohe Leistungsfähigkeit suggeriert. (sb)
Bild: Gerd Altmann / pixelio.de
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