Kinder mit nur einem Elternteil leiden nicht unter der Tatsache der Alleinerziehung, sondern vordergründig unter Armut
01.07.2011
Für Kinder macht es keinen wesentlichen Unterschied, ob sie mit einem oder zwei Elternteilen aufwachsen, so das Ergebnis einer aktuelle Studie des Erziehungswissenschaftlers Professor Dr. Holger Ziegler von der Universität Bielefeld und Kollegen. Die Experten hatten über tausend Kinder im Alter zwischen sechs und 13 Jahren nach ihrem persönlichen Empfinden befragt, mit dem überraschenden Ergebnis, dass Kinder von Alleinerziehenden nicht unglücklicher sind, als Kinder mit zwei Elternteilen.
Während die Erziehung durch lediglich einen Elternteil wenig Einfluss auf das Empfinden der Kinder zu haben scheint, spielen die finanzielle Situation und die Verlässlichkeit der Erziehungsberechtigten eine entscheidende Rolle, berichten die Erziehungswissenschaftler. Das Wohlbefinden der Kinder werde bei Alleinerziehenden nicht beeinträchtigt, wohingegen Armut und Vernachlässigung das Wohlbefinden der Heranwachsenden deutlich reduzieren können, erklärten Holger Ziegler und Kollegen. „Wenn es um beide Bereiche (Fürsorge und Finanzsituation) schlecht steht, wird es dramatisch für das Kind“, betonte Ziegler.
Kinder von Alleinerziehenden genauso glücklich wie mit zwei Elternteilen
Rund drei Millionen Erziehungsberechtigte erziehen in Deutschland ihre Kinder ohne Unterstützung durch einen zweiten Elternteil. Das Wohlbefinden der Kinder wird hierdurch jedoch entgegen bisherigen Annahmen offenbar kaum beeinträchtigt, so das Ergebnis einer umfassenden Studie des Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Holger Ziegler und Kollegen. Die Experten der Universität Bielefeld kamen bei der Befragung von über 1.000 Kindern zu dem Resultat, dass sich keine Beeinträchtigungen des Wohlbefindens durch die Erziehung mit nur einem Elternteil ergeben. Um die Vergleichbarkeit zu gewährleisten wurden gleichermaßen Kinder aus wohlhabenden und armen Familien berücksichtigt. Dabei konnten die Wissenschaftler der Universität Bielefeld feststellen, das die Einkommensverhältnisse – im Gegensatz zu der Anzahl der Erziehungsberechtigten – sehr wohl einen Einfluss auf das Empfinden der Kinder hatte. Außerdem identifizierten Holger Ziegler und Kollegen die elterliche Fürsorge als entscheidende Einflussgröße für das Wohlergehen der Kinder. Zwar ist die Befragungen von Kindern wissenschaftlich immer eine Herausforderungen, da diesen keinen komplexen Fragebögen vorlegt werden können, doch mit einfachen Fragen wie „Passieren oft doofe Dinge?“ könne die Situation der Kinder relativ realistisch erfasst und anschließend mit den Ergebnissen anderer Studien abgeglichen werden, erklärte der Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Holger Ziegler.
Kinder aus armen Familien werden stigmatisiert
Während die Anzahl der Erziehungsberechtigten keinen Einfluss auf das Wohlbefinden der Kinder zu haben scheint, geht laut Aussage der Experten von der materiellen Situation der Familie eine erhebliche Wirkung auf das Empfinden der Kinder aus. „Armut wirkt sich auf alle Bereiche des guten Aufwachsens aus, egal wie richtig die Eltern sonst alles machen“, betonte der Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Ziegler. Hierbei stehe nicht unbedingt das Geld an sich im Vordergrund, sondern zum Beispiel auch finanziell bedingte Faktoren wie ein eigenes Zimmer für das Kind, um eine frei Persönlichkeitsentfaltung zu unterstützen, erklärten die Experten der Universität Bielefeld. Insgesamt hätten ihre Befragungen gezeigt, dass Kinder aus unterprivilegierten Familien sich prinzipiell weniger zutrauen und häufig schlechtere Schulnoten haben, so die Aussage von Ziegler und Kollegen. Auch würden die Kinder aus ärmeren Familien ihre positiven Leistungen eher falsch einschätzen. Bei Schulleistungen, die von den Kindern aus ärmeren Familien als positiv eingeschätzt wurden, waren ihre Noten durchschnittlich schlechter als bei Kinder aus wohlhabenderen Familien. Auch fühlten sich die materiell schlechter gestellten Kinder häufiger gekränkt und demotiviert, berichten die Erziehungswissenschaftler. Bei den Kindern in finanziell gut dastehenden Familien, sei die Situation eher umgekehrt. Sie würden sich viel zutrauen und bei positiv eingeschätzten schulischen Leistungen, waren die Noten tatsächlich überdurchschnittlich gut.
Finanzielle Situation der Familie beeinflusst das Wohlbefinden
Der materielle Aspekt hat laut Aussage der Bielefelder Wissenschaftler einen erheblichen Einfluss auf die Gefühlslage der Kindern. So würden Sechsjährige aus armen Familien bereits darüber nachdenken, dass das Geld nicht ausreicht, um wesentliche Dinge anzuschaffen. Dies begünstige die häufiger zu verzeichnende emotionale Angeschlagenheit und eine vermehrtes Empfinden von Wut, Scham oder Trauer der Kinder aus materiell schwächeren Familien. Darüber hinaus würden die Kinder aus Familien mit finanziellen Schwierigkeiten von ihren Mitschülern öfter geärgert oder gemobbt, nicht zuletzt weil ihnen ihre Eltern keine teuren Kleidungsstücke und Spielsachen kaufen können. Kindern aus finanziell schwachen Familien würden von Lehrern und Altersgenossen generell eher stigmatisiert, erklärte der Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Ziegler.
Elterliche Fürsorge wesentlich für das Wohlbefinden der Kinder
Neben den finanziellen Gegebenheiten spielt laut Aussage der Wissenschaftler die elterliche Fürsorge für das Wohlbefinden der Kinder eine entscheidende Rolle. Wie viel Zeit verbringen Eltern mit ihren Kindern? Besteht eine gutes Vertrauensverhältnis und gehen die Erziehungsberechtigten auf die Gefühle der Heranwachsenden ein?, sind den Experten zufolge wesentliche Einflussgrößen in Bezug auf die Gefühlslage der Kinder. Die Heranwachsenden haben ein hohes Bedürfnis nach Zuwendung im Alltag, dass auch erfüllt werden müsse, erklärten die Erziehungswissenschaftler. Da die Kinder von Alleinerziehenden den Umfrageergebnissen zufolge mindestens genauso viel Aufmerksamkeit und Zuwendung bekommen, wie ihre Altersgenossen mit zwei Elternteilen, entstehe ihnen in Bezug auf das persönliche Wohlbefinden an dieser Stelle kein Nachteil. Die Kinder der Alleinerziehenden beurteilten die erfahrene Fürsorge tendenziell sogar etwas besser, als die Kindern mit zwei Elternteilen, so das Ergebnis der aktuellen Studie. Obwohl der Befragung zufolge die Alleinerziehenden von den Kindern als strenger empfunden werden und öfter Streit entsteht. Die Wissenschaftler um Prof. Dr. Holger Ziegler stellten im Rahmen ihrer Untersuchung auch fest, dass die Alleinerziehende sich anscheinend ein besseres Netzwerk aufbauen, als die Familien mit zwei Erziehungsberechtigten. Die Alleinerziehenden seien stärker darum bemüht, auch andere Personen mit einzuspannen, die gelegentlich für die Kinder sorgen, erklärten die Experten. Keinen Einfluss auf das Wohlbefinden der Kinder habe indes, ob die Eltern ihre Kinder „autoritär“ oder nach dem „laisser-faire“-Prinzip erziehen.
Vernachlässigte Kinder aus armen Familien brauchen Unterstützung
Die Ergebnisse der aktuellen Studie legen den Schluss nahe, dass weniger die Kinder der Alleinerziehenden, sondern eher die aus materiell schlechter gestellten Familien und die vernachlässigten Kinder Unterstützung brauchen, erklärten Prof. Dr. Ziegler und Kollegen. Maßnahmen wie das aktuell umfassend diskutierte Bildungspaket seien für die Betroffenen keine wirklich Hilfe, so der Erziehungswissenschaftler weiter. Stattdessen bedürfe es einer Infrastruktur, welche allen Kindern eine positive anregende Umgebung biete und Kommunen, die entsprechende Ausgaben auch finanzieren können. Außerdem seien die Ergebnisse der aktuellen Studie kein Grund zur Entwarnung, da zwar die Kinder der Alleinerziehenden keine Beeinträchtigungen verspüren, die Erziehenden jedoch selber unter den erheblichen Belastungen leiden, betonte Ziegler. Die Erziehungswissenschaftler forderten ein erhöhtes Maß an Aufmerksamkeit für die alleinerziehenden Erwachsenen, „weil es sich stark auf die Eltern auswirkt, wenn sie ihre Kinder alleine erziehen.“ In Bezug auf das Wohlbefinden der Kindern seien jedoch die finanzielle Situation sowie die elterliche Fürsorge entscheiden und „wenn es um beide Bereiche schlecht steht, wird es dramatisch für das Kind“, resümierten die Experten. (fp)
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