Zahl der ADHS-Diagnosen erneut massiv gestiegen
29.01.2013
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) – auch bekannt als Zappelphilipp-Syndrom – sind heute eine häufig gestellte Diagnose, doch warnen Mediziner seit Jahren davor, unruhigen Kinder leichtfertig den ADHS-Stempel aufzudrücken. Der Anstieg bei den Diagnosen sei regelrecht inflationär, so die Aussage des stellvertretender Vorstandsvorsitzenden der Barmer GEK, Dr. Rolf-Ulrich Schlenker, bei Vorstellung des „Arztreport 2013“. Insgesamt werteten die Forscher des Instituts für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitssystemforschung (ISEG) in Hannover für den Report die Daten von mehr als acht Millionen Versicherten der Barmer GEK aus dem Zeitraum 2006 bis 2011 aus.
ADHS bildet das Schwerpunktthema des Barmer GEK Arztreports 2013. Im Auftrag der Krankenkasse hat das Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitssystemforschung für den aktuellen Arztreport erstmals auch „einige Eltern-abhängige Faktoren, die das Risiko für eine ADHS-Diagnose und die Verordnung von Medikamenten mit Methylphenidat bei Kindern beeinflussen“ ermittelt, berichtet die Krankenkasse. Insgesamt kletterte die Zahl der ADHS-Diagnosen bei Kindern und Jugendlich bis zum Alter von 19 Jahren „zwischen 2006 und 2011 von 2,92 auf 4,14 Prozent“, so die Mitteilung der Barmer GEK. Dies entspreche einem Zuwachs von 42 Prozent. „Altersübergreifend ist der Bevölkerungsanteil mit einer ADHS-Diagnose“, laut Angaben der Krankenkasse, „sogar um 49 Prozent gestiegen.“
ADHS-Diagnosen besonders häufig zum Ende des Grundschulalters
Ab wann ein Kind krankhaft unkonzentriert und hyperaktiv ist, bleibt unter Experten bis heute umstritten. Doch in der Praxis scheinen Ärzte derzeit sehr viel eher zu einer entsprechenden Diagnose zu gelangen, als noch vor wenigen Jahrzehnten. Obwohl Mediziner seit langem eindringlich vor einer leichtfertigen ADHS-Diagnosestellung warnen, haben die ADHS-Diagnosen laut Barmer GEK Arztreport erneut deutlich zugenommen. Die Autoren des Reports kommen zu dem Schluss, dass sich in der vermehrten Diagnosestellung auch die Erwartungshaltung der Eltern widerspiegele. Auffällige, unruhige, unkonzentrierte besonders aktive Kinder passen anscheinend schlichtweg nicht richtig in unser Ausbildungssystem. Besonders hohe Diagnoseraten seien zum Ende des Grundschulalters vor dem Übergang auf weiterführende Schulen zu verzeichnen, berichten die Autoren des Reports, Dr. Thomas G. Grobe und Professor Dr. Friedrich W. Schwartz vom Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitssystemforschung. Sie beurteilen den erneuten Anstieg bei den ADHS-Diagnosen äußerst kritisch. „In Deutschland wird immer häufiger ADHS diagnostiziert, obwohl das öffentliche und fachliche Bewusstsein für dieses Erkrankungsbild bei uns schon seit mehr als einem Jahrzehnt hoch ist", betonte Prof. Schwartz.
750.000 ADHS-Diagnosen im Jahr 2011
Insgesamt wurde im Jahr 2011 laut Angaben des Barmer GEK Arztreports bei rund 750.000 Personen ADHS festgestellt, wobei ein Großteil der Diagnosen (620.000) Personen im Alter bis 19 Jahren betraf. Männer erhielten deutlich häufiger eine ADHS-Diagnose als Frauen (552.000 Männer gegenüber 197.000 Frauen). Die Diagnose-Raten wiesen jedoch erhebliche regionalen Unterschiede auf. So erhielten im bundesweiten Durchschnitt fast zwölf Prozent der Jungen im Alter von zehn bis zwölf Jahren eine ADHS-Diagnose, während beispielsweise in Unterfranken die Diagnose-Rate bei deutlich überdurchschnittlichen 18,8 Prozent lag, berichtet die Barmer GEK. Bei den Mädchen in Unterfranken sei eine noch deutlichere Überschreitung des bundesweiten Durchschnitts festzustellen gewesen (rund vier Prozent deutschlandweit, 8,8 Prozent in Unterfranken). Die regionalen Unterschiede seien auch bei den Arzneimittelverordnungen gegen ADHS aufgetreten, schreiben die Autoren des Arztreports. Erhielten im Bundesdurchschnitt rund 6,5 Prozent der zehn- bis zwölfjährigen Jungen eine Verordnung, so waren es in Unterfranken 13,3 Prozent. Bei den Mädchen erhielten in Unterfranken 5,5 Prozent eine entsprechende Medikation gegenüber zwei Prozent im Bundesdurchschnitt. Offenbar neigen die Mediziner in Unterfranken eher zu einer ADHS-Diagnose und einer entsprechenden Medikation mit Methylphenidat (Handelsname Ritalin). Wieso die Diagnose-Rate hier so deutlich über dem Bundesdurchschnitt liegt, bleibt jedoch auch in dem Arztreport der Barmer GEK offen.
20 Prozent der Jungen mit ADHS
In der Verlaufsbetrachtung der ADHS-Diagnosen wird deutlich, dass knapp „20 Prozent aller Jungen, die im Jahr 2000 geboren wurden, zwischen 2006 und 2011 von einer ADHS-Diagnose betroffen“ waren, berichtet die Barmer GEK. Bei den Mädchen dieses Jahrgangs seien es 7,8 Prozent gewesen. Den Experten des ISEG zufolge müssen auf Basis der aktuellen Daten „ein Viertel aller Männer und mehr als 10 Prozent aller Frauen“ im Lebensverlauf mit einer ADHS-Diagnose rechnen. Ähnlich erschreckend ist die Entwicklung der Verordnungen von Ritalin ( Methylphenidat). Diese sind zwischen den Jahren 2006 und 2011 ebenfalls deutlichen gestiegen, wobei allerdings im Jahr 2010 erstmals ein Rückgang der verschriebenen Tagesdosen registriert wurde. Insgesamt erhielten im Jahr 2011 circa sieben Prozent der Jungen und zwei Prozent der Mädchen im Alter von elf Jahren Ritalin. Den Zahlen des Arztreports zufolge wurde das Medikament im Jahr 2011 rund 336.000 Personen verschrieben. „Im Laufe der Kindheit und Jugend dürften schätzungsweise 10 Prozent aller Jungen und 3,5 Prozent aller Mädchen mindestens einmal Methylphenidat erhalten“, so die Mitteilung der Barmer GEK. Welche Risiken hiermit verbunden sein können, ist bis heute nicht abschließend geklärt. Als mögliche Nebenwirkungen stehen unter anderem Wachstumsstörungen bei Kindern, Schlafstörungen, Appetitlosigkeit und Herz-Rhythmus-Störungen in der Diskussion.
Niedriges Bildungsniveau der Eltern als Risikofaktor für ADHS
Die Wissenschaftler des ISEG ermittelten im Rahmen des Arztreports auch einige Eltern-abhängige Faktoren, welche das Risiko für eine ADHS-Diagnose und die Verordnung von Medikamenten mit Methylphenidat bei Kindern beeinflussen. Sie stellten fest, dass mit steigendem Ausbildungsniveau der Eltern ein sinkendes ADHS-Risiko verbunden ist, während ein niedriges Bildungsniveau der Eltern mit dem vermehrten Auftreten von ADHS einhergeht. Auch seien Kinder arbeitsloser Eltern häufiger betroffen und „ADHS wird bei Kindern von Gutverdienern tendenziell seltener diagnostiziert“, berichtet die Barmer GEK. Zudem gebe es „Hinweise darauf, dass Kinder jüngerer Eltern ein höheres Diagnose-Risiko haben als diejenigen von Eltern mittleren Alters.“ Den Angaben des Arztreports 2013 zufolge erhalten Kinder mit einem Elternteil im Alter zwischen 20 und 24 Jahren etwa 1,5 mal häufiger eine ADHS-Diagnose als Kinder mit Eltern zwischen 30 und 35 Jahren. Eine Erklärung hierfür konnte auch der Vorstandsvorsitzende der Barmer GEK, Dr. Rolf-Ulrich Schlenker, nicht liefern. „Ob das an einer größeren Gelassenheit von Eltern im fortgeschrittenen Alter liegt oder an Erziehungsproblemen jüngerer, bleibt offen", so Dr. Schlenker.
Schwierige Diagnose der Verhaltensauffälligkeit
Das schwierige an der ADHS-Diagnose, ist laut Aussage der Experten die Bestimmung, ab welcher Grenze eine krankhafte Verhaltensauffälligkeit vorliegt. Dies bedarf grundsätzlich einer intensiven Auseinandersetzung mit den Patienten, für welche im Praxisalltag jedoch nicht selten die Zeit fehlt. So erklärte der renommierte Gesundheitsökonom und Arzneimittelforscher Gerd Glaeske von der Universität Bremen gegenüber dem „Stern“, dass hier bereits das erste Problem bei der ADHS-Diagnose auftauche. Häufig bestehe kaum ausreichend Zeit für umfassende Untersuchungen. Eltern und Lehrer wollen das Problem gelöst sehen und setzen auf eine schnelle Behandlung. So sei die Diagnose oft rasch gestellt und biete den Eltern vermeintlich einfache Antworten auf viele Fragen. Doch nicht jedes unruhige Kind leidet an ADHS und eine Behandlung mit Ritalin ist keineswegs immer erforderlich.
Alternative Möglichkeiten der ADHS-Therapie
Abhängig von der Schwere der Krankheit gebe es auch andere Möglichkeiten der ADHS-Therapie, wie beispielsweise ein effektives Elterntraining oder Verhaltenstherapie, erläuterte Manfred Döpfner, Experte für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Köln. „Die therapeutische Begleitung der Kinder, aber auch der Eltern ist elementar für eine erfolgreiche Behandlung von ADHS“, so Döpfner gegenüber dem „Stern“. Alternative Behandlungsangebote seien jedoch Mangelware und die Wartelisten überfüllt. Die Ärzte befinden sich daher „oft in einem ethischen Dilemma: entweder sie behandeln die Kinder mit Ritalin, oder sie behandeln sie gar nicht“, erklärte der Experte und forderte auch von den Krankenkassen ein stärkeres Engagement. Die „therapeutischen Kapazitäten für Eltern und Kinder“ müssten ausgebaut und natürlich auch bezahlt werden, so das Fazit des Kinder- und Jugendpsychologen. (fp)
Lesen Sie auch zum Thema ADHS:
ADHS: Viele Erwachsene leiden unbewusst daran
Studie: ADHS wird oft falsch diagnostiziert
ADHS: Physiotherapie statt Psychostimulanzen?
Immer mehr Kinder erhalten ADHS-Medikamente
Trendwende in der ADHS-Therapie?
ADHS: Konzentration durch Lärm
Umweltfaktoren bei ADHS kaum untersucht
Bildnachweis: Benjamin Thorn / pixelio.de
Autoren- und Quelleninformationen
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.