Arzneimittelreport 2012: Erhöhte Gefahr der Arzneimittelabhängigkeit bei Frauen
26.06.2012
Der Arzneimittelreport 2012 der Krankenkasse Barmer GEK zeigt erhebliche geschlechtsspezifische Missstände bei der Verschreibungspraxis von Arzneimitteln. So erhalten laut Aussage in dem heute vorgestellten Report, „Frauen etwa zwei- bis dreimal mehr Psychopharmaka als Männer.“ Damit verbunden sei auch eine deutliche erhöhte Gefahr der Medikamentensucht.
Derartige geschlechtsspezifischen Differenzen sind „medizinisch kaum begründbar, widersprechen den Leitlinien und bergen ein hohes Abhängigkeitsrisiko“, so die Aussage der Barmer GEK in ihrer Pressemitteilung zu dem Arzneimittelreport 2012. Das Frauen rund 22 Prozent mehr Arzneimittel verschrieben bekommen als Männer, löst bei den Experten Besorgnis aber auch deutliche Kritik aus. Hier seien wissenschaftliche Studien erforderlich, um die spezifischen Bedürfnisse von Frauen und Männern besser zu erforschen und in Zukunft eine adäquate Medikation zu erreichen.
Frauen erhalten zwei- bis dreimal mehr Antidepressiva und Hypnotika
Der Arzneimittelreport 2012 basiert auf den Verordnungen von rund neun Millionen Versicherten der größten Deutschen Krankenkasse. Im Auftrag der Barmer GEK hat der Professor Dr. Gerd Glaeske vom Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen den Report erarbeitet und dabei die Missstände in der geschlechtsspezifischen Verschreibungspraxis aufgedeckt. Hier werden laut Aussage des Reports von den Ärzten offensichtlich große Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Patienten gemacht. Auffällige Abweichungen seien insbesondere im Bereich der Antidepressiva und Hypnotika festzustellen, von denen Frauen zwei- bis dreimal mehr verordnet bekommen als Männer. Das Risiko der Arzneimittelabhängigkeit ist laut Angaben des Reports gerade bei diesen Mitteln besonders hoch. Rund 1,2 Millionen Menschen in Deutschland seien bereits abhängig von entsprechenden Medikamenten, zwei Drittel davon sind ältere Frauen, berichten die Studienautoren.
20 Prozent mehr Arzneimittelverordnungen bei Frauen
Den Zahlen des Arzneimittelreports 2012 zufolge, entfielen auf 100 Frauen durchschnittlich 937 Verordnungen im Jahr 2011, wohingegen Männer bei lediglich 763 Verordnung je 100 Versicherten lagen. Damit wurden den Frauen 22,3 Prozent häufiger Arzneimittel verschrieben als Männern. Frauen erhalten nach Einschätzung der Studienautoren zum Beispiel öfter Psychopharmaka, weil sie eher bereit sind, über ihre psychischen Probleme zu sprechen und ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, als Männer. Hierdurch steige jedoch das Risiko, schon bei „Missbefindlichkeiten im Alltag" mit Arzneimitteln versorgt zu werden, schreiben Prof. Glaeske und Kollegen. Auf Basis der Ergebnisse könne „der Schluss gezogen werden, dass die Medikamentenabhängigkeit weiblich ist", so die überspitze Aussage in dem aktuellen Arzneimittelreport.
Für Frauen potenziell gefährlich Arzneimittel auf einer Liste zusammenfassen
Als Konsequenz auf die überproportional hohen Arzneimittelverordnungen bei Frauen forderte Prof. Dr. Glaeske nicht nur eine intensiveren Versorgungsforschung, sondern auch eine Negativliste – ähnlich der Priscus-Liste für ältere Patienten – auf der sämtliche für Frauen riskanten Arzneimittel gelistet werden. „Wir brauchen eine Negativliste, welche Ärzte verlässlich über Wirkstoffe informiert, die bei Frauen gefährliche Effekte auslösen können“, betonte der Experte. Der aktuelle Arzneimittelreport verdeutliche jedoch auch, dass „die Verordnungsmengen nicht mehr grundsätzlich bei Frauen höher sind“ als bei Männern, so die Mitteilung der Barmer GEK. Demnach liegen Männer im höheren Alter bei den Tagesdosierungen mittlerweile deutlich vorne. Noch vor zehn Jahren sei dieses Verhältnis mit 441 Tagesdosierungen bei den Frauen und 295 bei den Männern eindeutig zu Lasten der Frauen ausgefallen, doch „seit 2004 dürfen nicht-rezeptpflichtige Arzneimittel wie Venenmittel oder pflanzliche Mittel gegen Zyklusstörungen nicht mehr verordnet werden“, erläuterte Glaeske die Veränderungen bei den Verschreibungen. Zudem habe „der Rückgang von verordneten Hormonpräparaten gegen Wechseljahresbeschwerden“ zu einem Rückgang der Verschreibungen geführt, da früher „30 bis 40 Prozent der über 45-jährigen Frauen solche Präparate dauerhaft“ erhielten, so Prof. Dr. Glaeske weiter.
Kritik an Antibiotika-Verordnungen der Zahnärzte
Neben den geschlechtsspezifischen Unterschieden werden in dem Arzneimittelreport 2012 auch andere Missstände bei der Verschreibungspraxis thematisiert. So bemängelten die Autoren zum Beispiel die von Zahnärzten bevorzugte Verschreibung des Antibiotikums Clindamycin, da „die Leitlinien Amoxicillin als Mittel der ersten Wahl empfehlen und Clindamycin mehr als doppelt so teuer ist.“ Mehr als die Hälfte aller Antibiotikaverordnungen von Zahnärzten entfallen laut Arzneimittelreport auf Clindamycin. Auch müsse die „zahnärztliche Schmerzmittelverordnung teilweise hinterfragt werden“, da Zahnärzte Analgetika bevorzugen, die ASS, Paracetamol und Codein beziehungsweise Coffein kombinieren, obwohl laut Prof. Dr. Glaeske „Monopräparate wie Ibuprofen ohne Zweifel vorzuziehen“ sind. Kritik übten die Studienautor des weiteren an der „medikamentösen lipidsenkenden Therapie“, die einen Herzinfarkt beziehungsweise die koronare Herzkrankheit verhindern soll. Die Wirkung der Therapie sei nicht abschließend geklärt und „es werden deutlich zu viele Menschen mit Cholesterinsenkern behandelt", betonte Prof. Dr. Glaeske.
Fragwürdige Verschreibungspraxis bei Schmerzmitteln
Die Praxis bei der Verschreibung von Schmerzmitteln wirft laut Aussage des Arzneimittelreports 2012 ebenfalls einige Fragen auf. Rund 120 Millionen Euro der Arzneimittelausgaben der Barmer GEK (drei Prozent) entfallen auf starke Opioide, wobei die Fentanyl-Verordnungen mit 41 Prozent den Großteil ausmachen. Die massive „Verordnung von Fentanylhaltigen Schmerzpflastern in der Erstversorgung – entgegen den Leitlinien, die zu Beginn einer Therapie starke Schmerzmittel wie Morphin oder Oxycodon empfehlen und Fentanylpflaster erst, wenn Patienten nicht mehr darauf ansprechen“, birgt laut Aussage der Experten einige Risiken. „Durch die versetzt eintretende Wirkung und eine auch nach Entfernen des Pflasters bestehende Wirkstoffkonzentration ist die Gefahr der Überdosierung gegeben und der Einsatz bei Patienten, die bis dahin keine Erfahrung mit Opioiden hatten, kritisch“, erklärte die Barmer GEK. Darüber hinaus falle „die häufige Verordnung von neuen starken und teuren Schmerzmitteln wie Targin und Palexia auf, obwohl die „Studienlage für diese Mittel bisher keine Evidenz zeigt“, so die Mitteilung der Krankenkasse zu den Ergebnissen des Arzneimittelreports.
Vier Milliarden Euro Arzneimittelausgaben bei der Barmer GEK
Den Zahlen des Arzneimittelreports 2012 zufolge hat die Barmer GEK im Jahr 2011 rund 3,9 Milliarden Euro für Arzneimittel ausgegeben, zuzüglich weiterer 400 Millionen Euro für Rezepturen und importierte Arzneimittel. Dabei entfiel mit rund 32 Prozent der Ausgaben ein erheblicher Anteil auf „neue, teure Spezialpräparate gegen Rheuma, Multiple Sklerose oder Krebs“, obwohl diese lediglich knapp drei Prozent der Verordnungen insgesamt ausmachten, berichtet die Barmer GEK. Dennoch sei die Entwicklung der Arzneimittelausgaben insgesamt durchaus erfreulich, erläuterte der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Barmer GEK, Dr. Rolf Ulrich Schlenker. Durch das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) wurde „die Ausgabendynamik im Arzneimittelmarkt gebremst“ und die Nutzenbewertung neuer Medikamente helfe „die Spreu vom Weizen“ zu trenne, betonte Schlenker. Keinesfalls sollte daher nach Ansicht des stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden der Barmer GEK das AMNOG wieder aufgeweicht werden. (fp)
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