Fast alle IGEL Zusatzleistungen beim Arzt sind überflüssig und erbringen kaum einen Nutzen
06.06.2011
Immer mehr Ärzte bieten ihren Patienten sogenannte „Individuelle Gesundheitsleistungen“, kurz IGEL, an. Solche Zusatzleistungen sind mittlerweile zu einem lukrativen Nebenerwerb der Ärzte geworden. Allein im letzten Jahr konnten niedergelassene Mediziner Einnahmen von rund 1,5 Milliarden Euro verzeichnen. Doch sind die speziellen Leistungen zur Behandlung und Diagnostik tatsächlich sinnvoll und zielen sie nur darauf ab, besorgten Patienten das Geld aus der Tasche zu ziehen?
Seit einigen Wochen klagt Birgit S. über einen leichten Husten. Gegenüber ihrem Hausarzt erklärte Frau S. ihre Sorge, eventuell an Lungenkrebs erkrankt zu sein, da zusätzlich zum Husten auch ein Schmerz auf der Brust besteht. Der Allgemeinmediziner konnte keine Auffälligkeiten beim Abhorchen der Lunge feststellen. Um die Sorge der Patientin zu mindern und um auf Nummer Sicher zu gehen, überwies der Arzt Birgit S. an einen Lungenfacharzt. Dort angekommen durchlief Birgit S. eine Reihe von Untersuchungen. „Um wirklich sicher zu gehen, dass keine asthmatisch bedingte Atemfunktionsstörung“ vorliegt, müsse man „eine Stickoxid NO-Untersuchung durchführen“, sagte der Lungenarzt. Da aber diese Untersuchung sei eine sogenannte „IGEL-Leistung“ sei, die nicht von der Krankenkasse finanziert wird. Daher müsse Frau S. 20 Euro extra zahlen. So oder so ähnlich ergeht es Tausenden Patienten jeden Tag.
1,5 Milliarden Euro durch Zusatzleistungen
Rund 1,5 Milliarden Euro haben Deutschlands Ärzte im vergangenen Jahr an privaten Zusatzleistungen verdient. Für das laufende Jahr könnten sich die Einnahmen sogar noch steigern, wie Gesundheitsökonomen prognostizieren. Diagnosen oder Therapien, die keinen tatsächlichen Nutzen erbringen bzw. überflüssig sind, für die zahlen die Kassen keinen Pfennig. Bestimmte Leistungen werden nur dann in den Leistungskatalog der Krankenkassen aufgenommen, wenn tatsächlich ein medizinischer Mehrwert für den Patienten vorhanden und wissenschaftlich bestätigt ist. Immer wieder streiten sich Ärzte, Patienten und Krankenkassen über die Aufnahme in den Katalog.
Geschäft mit der Angst des Patienten
Nun floriert aber das Geschäft mit der Angst auch ohne Kostenerstattung der Krankenkassen. Immer dann, wenn Patienten in Sorge um ihre Gesundheit sind, können zusätzliche Leistungen gut verkauft werden. Birgit S. stimmte schließlich dem „NO-Test“ zu. Doch bei späterer Recherche merkte sie, dass ein erhöhter Wert zwar das Vorliegen einer asthmatisch bedingten Atemfunktionsstörung beweist, allerdings ein Normalwert das Vorliegen von Asthma-Bronchiale nicht ausschließen kann. „Waren die 20 Euro nun völlig umsonst investiert?“, fragt Birgit S.
Weites Spektrum von IGEL-Leistungen
Das Spektrum der angebotenen Zusatzleistungen ist weit und reicht von gynäkologischen Sonderleistungen über Vorsorgediagnosen bis hin zu orthopädischen Therapien. Am häufigsten werden Ultraschall-Untersuchungen mit 20 Prozent gebucht, gefolgt von Grüner Star Vorsorgediagnosen mit 16,2 Prozent. Nicht erstattungsfähige Arzneien rangieren auf Platz 3 mit 11,5 Prozent. Mittlerweile werden über 300 solcher IGEL-Leistungen angeboten. Das Branche verzeichnete seit 2005 einen Anstieg von satten 50 Prozent. Laut einer Studie des wissenschaftlichen Instituts der AOK (Wido) wurden bereits einem Viertel der gesetzlich Krankenversicherten eine solche Leistung angeboten.
Verbraucherschützer warnen vor Zusatzleistungen
Verbraucherschützer und selbst Vertreter der Bundesärztekammer warnen vor dem geradezu inflationären Gebrauch der IGEL Leistungen. Denn oft erfüllen eben jene Leistungen nicht ihren Zweck und füllen in Zweifelsfall nur den Geldbeutel des behandelnden Arztes. "Der Patient wird zum Kunden gemacht, ob er das will oder nicht", erklärte Stefan Etgeton, Experte bei der Verbraucherzentrale im Bundesverband. Einen Leistungskatalog der gesundheitlichen Zusatzprodukte gibt es nicht. Es gibt nur den sogenannte „freien Markt“ betont Etgeton. Das bedeutet nicht der Nutzen steht im Vordergrund, sondern Angebot und Nachfrage. Durch die ökonomischen Überlegungen des Mediziners werde das Verhältnis zwischen Arzt und Patient getrübt, kritisieren Kritiker. Und die Bundesärztekammer warnt: "Patienten sind keine Kunden und der Arztberuf ist kein Gewerbe."
Ärzte lernen bei Schulungen Verkaufsstrategien
Bei weitem sind IGEL-Angebote keine Randerscheinung mehr. Arzthelferinnen und Ärzten werden regelmäßig in Schulungen das Führen von Verkaufsgesprächen gelehrt. Aber die Menschen gehen nicht zum Arzt, um ein Produkt zu kaufen, sondern weil sie krank sind. Die meisten Patienten rechnen auch nicht mit einem wirtschaftlichen Interesse. Schließlich ist man als Patient nicht auf gleicher Augenhöhe, erklärt Kai Vogel von der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen. "Da ist man auf das Fachwissen des Mediziners angewiesen.“ Wirtschaftliches Denken sollten dabei keine Rolle spielen, betont der Verbraucherschützer. Ein geldnahes Interesse sollten Patienten aber nicht unterschätzen. Deshalb rät die Bundeszentrale der Verbraucherschützer auch grundsätzlich zur Zurückhaltung. Am Besten sei es, sich eine Bedenkzeit einräumen zu lassen. Denn keine IGEL Leistung ist lebensnotwendig und müsste auf der Steller angewandt werden, betont Vogel. Im Anschluss kann man sich ausreichend informieren und dann entweder zustimmen oder ablehnen.
Ärzte behaupten in diesem Zusammenhang immer wieder gern, dass bestimmte Zusatzleistung vor der Gesundheitsreform im Leistungskatalog der Krankenkassen aufgenommen waren. Das stimmt bei keiner einzigen IGEL-Leistung und gehört damit in die Kategorie der Falschbehauptungen. Wer als Patient geradezu bedrängt oder genötigt wird, eine Zusatzleistung zu erwerben oder bei Ablehnung das Gefühl hat, schlechter behandelt zu werden, der sollte sich bei seiner Krankenkasse oder bei der zuständigen Ärztekammer beschweren. Eine Ablehnung darf nicht zu einer schlechteren Behandlung führen. (sb)
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Bild: Paul Golla / pixelio.de
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