Über drei Viertel der Patienten bevorzugen alternativmedizinische Heilmittel
28.09.2011
Wie steht die deutsche Bevölkerung zu konventionellen Pharmaka? Und was sind die Ursachen für die mangelhafte Therapietreue von Patienten, der so genannten Non-Compliance? Mit diesen Fragen befasst sich der aktuelle Gesundheitsmonitor 2011 der Bertelsmann Stiftung. Das Thema ist mindestens ökonomisch relevant für das Gesundheitssystem: Die direkten Kosten der Non-Compliance wurden für Deutschland in einer Studie Ende der 90er Jahre auf 7-10 Milliarden Euro jährlich geschätzt – das sind Kosten für Klinikaufenthalte, Pflegeleistungen oder Notfalleinweisungen. Der reale wirtschaftliche Schaden dürfte deutlich höher liegen, indirekte Kosten wie Produktivitätsverluste und Fehlzeiten blieben unberücksichtigt.
Die repräsentative Umfrage tritt mit einem hohen Anspruch an: Ziel sei es, Informationen über die Veränderungen des deutschen Gesundheitswesens zu erheben und darauf aufbauend konkrete Reformvorschläge zu entwickeln, so die Stiftung. Auf der Grundlage von rund 1.800 Befragungen von Menschen zwischen 18 und 79 Jahren präsentiert der Gesundheitsmonitor zentrale Befunde: Auffällig ist eine deutlich negativ ausgeprägte Haltung der Patienten gegenüber Medikamenten, die in der Aussage gipfelt: „Letztlich sind sie Gift.“ Mehr als die Hälfte der Befragten stimmen dem zu. Konventionelle Arzneimittel werden in erster Linie als notwendiges Übel empfunden. 82 Prozent sagen: „Ich mag Medikamente nicht. Wenn ich ohne sie auskäme, würde ich sie weglassen.“ Über 60 Prozent beklagen, dass Ärzte zu häufig auf Medikamente vertrauen und diese zu häufig verordnen. Dagegen bekennen sich über drei Viertel der Befragten zu ihrer Präferenz für „sanftere“ alternativmedizinische Arzneien.
„Das Risiko von Non-Compliance fällt 1,6-mal so groß aus bei unzureichender ärztlicher Information über Nebenwirkungen, 1,9-mal so groß bei einer generalisierten Negativeinstellung gegenüber Medikamenten und 3-mal so groß bei einer ungünstigen Bewertung des zuletzt verordneten
Medikaments“, so die Bertelsmann Stiftung. Die ärztlichen Auskünfte über verordnete Arzneimittel seien ein ganz zentraler Einflussfaktor für die Therapietreue. Jeder fünfte Patient hat laut Gesundheitsmonitor „sehr starke“ oder „eher starke“ Befürchtungen und Verhaltensunsicherheiten
aufgrund der möglichen Nebenwirkungen seiner Medikamente. Das laut Gesundheitsmonitor generelle Unbehagen großer Bevölkerungsteile gegenüber Arzneimitteln finde ohne Zweifel auch eine rationale Erklärung: „Negative, körperlich wie seelisch unangenehme Erfahrungen von Nebenwirkungen bei einem Medikament werden verallgemeinert und bewirken Vorbehalte und Ängste gegenüber anderen Medikamenten.“
„Grundsätzlich ist das Unbehagen der Patienten medizinisch berechtigt“, sagt Cornelia Bajic, erste Vorsitzende des Deutschen Zentralvereins homöopathischer Ärzte, denn jeder Mediziner wisse: „Verordnet ein Arzt seinem Patienten mehrere verschreibungspflichtige Medikamente, verlässt er bereits den Boden evidenzbasierter Medizin – für diesen Fall liegen in der Regel keine verlässlichen Studiendaten zu Wechsel- und Nebenwirkungen vor“, so Bajic weiter. Zur mangelhaften Aufklärung des Patienten durch den Arzt schreibt die Bertelsmann Stiftung, dass ein Arzt „natürlich nicht“ die Zeit aufbringen könne, ausreichend über ein Medikament und dessen Nebenwirkungen zu informieren. Das mangelnde Wissen des Patienten über Arzneimittel führe dann über verborgene, nicht verstandene Risiken oftmals zu übersteigerten Ängsten. „Die generellen Vorbehalte gegenüber Arzneimitteln („letztlich Gift“) lassen sich in diesem Kontext zumindest teilweise interpretieren als Sedimente eines Halb- und Unwissens“, so die Stiftung.
Zur Förderung der Compliance empfiehlt der Gesundheitsmonitor Informationsgespräche, schriftliche Informationen, persönliche Telefonanrufe, Erinnerungsanrufe, Pillenboxen, Tabletts und spezielle Beratungsangebote für Patienten, die bereits einschlägige negative Erfahrungen mit
Medikamenten gemacht haben. „Diese Mittel greifen zu kurz“, erklärt Bajic. Es reiche zur Erhöhung der Compliance nicht aus, sicherzustellen, dass Patienten brav ihre Pharmaka einnehmen. „Der Patient will eine integrative Medizin, die mit unterschiedlichen Behandlungsmethoden auf
seine individuelle Krankheitssituation reagiert“, so Bajic. Dies schließe ausreichend Zeit und Aufklärung für den Patienten mit ein, was über Vertrauen eine hohe Therapietreue schaffe. „Nicht zuletzt vor dem Hintergrund des enormen Einsparpotenzials ist die Politik gefordert, sinnvolle Rahmenbedingungen für eine integrative Medizin in Deutschland zu schaffen, für die sich der DZVhÄ bereits seit Jahren einsetzt.“ (DZVhÄ)
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