Forscher bestimmen die Funktion des vermeintlichen DNA-Müll
08.09.2012
Elf Jahre nach der Entschlüsselung des menschlichen Erbgutes durch das „Human Genome Project“ hat ein internationales Forscherteam einen weiteren wichtigen Schritt auf dem Weg zum Verständnis des Bauplans des Lebens geleistet. Hunderte Wissenschaftler des ENCODE-Projektes, angeführt vom National Genome Research Institute in den USA und dem EMBL-European Bioinformatics Institute in Großbritannien, haben jetzt eine detaillierte Karte der Funktionen des menschlichen Genoms präsentiert und dabei vier Millionen sogenannte Genschalter identifiziert.
Seit der Entschlüsselung des menschlichen Erbgutes im Rahmen des „Human Genom Project“ vor mehr als einem Jahrzehnt stellten sich Molekularbiologen weltweit die Frage, wieso lediglich zwei Prozent der Erbanlagen aus Genen bestehen, die als Anleitung für die Bildung von Proteinen dienen. Theoretisch hätten im Zuge der Evolution, diese auch als Junk-DNA bezeichneten, vermeintlich unnützen Bestandteile des Genoms wegfallen können. Doch die Junk-DNA ist keineswegs überflüssig, sie erfüllt den Forschern des ENCODE-Projektes zufolge eine entscheidende regulatorische Funktion für die Aktivität der Gene. Ihre Ergebnisse haben die Wissenschaftler in über 30 Artikeln in den drei renommierten Fachmagazinen „Nature“, „Genome Biology“ und „Genome Research“ veröffentlicht.
Vier Millionen Genschalter identifiziert
Seit neun Jahren arbeiten Forscher weltweit im Rahmen des ENCODE-Projektes an der Untersuchung der Genom-Bereiche, welche außerhalb der Gensequenzen liegen, die zur Bauanleitung der Proteine dienen. Dabei entdeckten sie eine überraschend weitreichende Funktion der Junk-DNA. Vier Millionen identifizierte Genschalter bestimmen die Aktivität der Gene. „Mutationen in diesen Regionen können zu menschliche Krankheit führen“, berichtet das European Bioinformatics Institute in einer aktuellen Pressemitteilung. Die Anzahl der identifizierten Genschalter sei verblüffend hoch, betonte der Leiter des Institutes, Rolf Apweiler. Die Junk-DNA sei eigentlich ein „control panel“ (Bedienfeld) mit Millionen Steuerungselementen, welche über die Aktivität der Gene bestimmen. „80 Prozent des Genoms sind in irgendeiner Form an dieser Regulation beteiligt“, schreiben die Forscher des ENCODE-Projektes.
Identifizierte Genschalter in der Junk-DNA regulieren die Genaktivität
Insgesamt 442 Wissenschaftler aus den USA, Großbritannien, Spanien, Singapur und Japan waren im Rahmen des ENCODE-Projektes in den vergangenen neun Jahren an der Untersuchung der menschlichen Erbanlagen beteiligt. Sie sequenzierten über 1.600 Genome aus 147 Gewebetypen. Dabei sammelten sie die riesige Menge von 15 Terabytes Rohdaten, die anschließend analysiert wurden. Anfangs konzentrierten sich die Forscher auf die Bereiche des Genoms, welche direkt für die Bauanleitung der Proteine zuständig sind. Dies waren jedoch nur zwei Prozent des Genoms. Die folgenden Untersuchungen widmeten sich insbesondere der Analyse der sogenannten Junk-DNA. Hier identifizierten die Wissenschaftler vier Millionen Genschalter, welche über die Regulierung der Genaktivität zur Produktion von Millionen unterschiedlichen Proteinen beitragen. Jedes Gen könne an- und abgeschaltet, aber auch auf mindestens zwei bis drei unterschiedliche Arten abgelesen werden, erläuterte der Leiter des European Bioinformatics Institutes. Diese Genversionen werden als Transkripte bezeichnet.
Hohe Komplexität der Genschalter erschwert das Verständnis von Krankheiten
Dr. Michael Snyder, Professor und Vorsitzender der Stanford University sowie leitender Prüfarzt bei ENCODE, erläuterte, dass das Projekt die Erkenntnisse liefere, „die wir brauchen, um hinter die lineare Struktur des Genoms zu blicken und das gesamte Netzwerk zu erkennen.“ ENCODE ermögliche einen tiefen Einblick in den „Regelkreis, der uns erzählt, wie alle Teile zusammen kommen, um ein komplexes Wesen zu bilden”, so Snyder weiter. Allerdings sei das Ergebnis faszinierend und frustrierend zugleich, ergänzte Rolf Apweiler. Die Komplexität der Funktion der vier Millionen Genschalter sei schlichtweg so hoch, dass ein einfacher Ursache-Wirkung Zusammenhang in Bezug auf bestimmte Krankheiten nur schwer zu ermitteln ist. Das Ziel der Arbeit sei letztendlich bei den Entwicklung von Medikamenten zu helfen, die billiger, effektiver und sicherer sind als heutige.Die Entstehung von Krankheiten stelle sich jedoch viel komplexer dar, als bislang angenommen. Apweiler fragte sich daher, „ob unsere Gehirnzellen je dafür ausreichen werden“, zu verstehen wie eine Krankheit entsteht und wie sich in diesen Prozess eingreifen lässt.
Entschlüsselung des Schaltplans des Lebens
Trotzdem sind die Wissenschaftler von der Bedeutung ihre Forschungsergebnisse überzeugt. Die freie Veröffentlichung der Daten sei ein Meilenstein der Genomforschung. Das ENCODE-Projekt leiste einen wesentlichen Beitrag „zum Verständnis des Schaltplans des Menschen“, erklärte Michael Snyder. Auch könne neben dem grundlegenden Verständnis der Biologie die Untersuchung von genetischen Einflüssen auf die Entwicklung von Krankheiten anhand der Daten gefördert werden. „Wir fangen an, die Informationen, die in genomweiten Assoziationsstudien generiert werden, zu verstehen“, so Snyder. Verschiedene Studien, die das Genom von Menschen mit komplexen Erkrankungen wie Diabetes, Herzleiden wie Herzinfarkt oder Fettleibigkeit mit dem Erbgut von Gesunden vergleichen, wurden bereits veröffentlicht. Doch diese haben die meisten Unterschiede außerhalb der Gensequenzen lokalisiert, die für die Bildung der Proteine zuständig sind.
Enzyklopädie zur Funktion des Genoms
Angesicht der Ergebnisse des ENCODE-Projektes erscheinen diese genomweiten Assoziationsstudien in einem ganz anderen Licht, erläuterte Rolf Apweiler. Die Aufmerksamkeit liege nun auf den Millionen Genschaltern, die offenbar maßgeblichen Einfluss auf die Entstehung von Krankheiten haben.Während bisher die regulierenden Elemente eher in der Nähe der Gensequenzen vermutet wurden, welche die Bildung von Proteinen bestimmen, wiesen die Forscher im Zuge des ENCODE-Projektes nach, dass die vergleichsweise entfernten Abschnitte ebenfalls eine Rolle spielen. Ermöglicht wurde eine derart umfassende Analyse des Genoms laut Aussage der Forscher durch signifikante Fortschritte in der Sequenziertechnologie, welche die genetische Analyse nicht nur schneller sondern auch wesentlich preiswerter gemacht hat. „Das erste Humangenom zu entziffern hat etwa 500 Millionen Euro gekostet, heutzutage kann man das Erbgut eines Menschen für 1 000 bis 1 500 Euro entziffern“, betonte der Leiter des European Bioinformatics Institute. Dank der neuen Möglichkeiten haben „wir jetzt eine interaktive Enzyklopädie, auf die sich jeder beziehen kann, was einen großen Unterschied“ bei der zukünftigen Forschung machen wird, so der ebenfalls an dem Projekt beteiligte spanische Forscher Roderic Guigo vom Centre de Regulació Genomica (CRG) in Barcelona. (fp)
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