Ehemalige Heimkinder aus West- und Ostdeutschland erhalten Entschädigung
14.10.2012
Anfang des Jahres hat die Berliner Beratungsstelle für ehemalige Heimkinder ihre Tätigkeit aufgenommen und seither rund 1.200 Betroffenen aus Ost- und Westdeutschland geholfen. Das Angebot richtet sich an ehemalige Heimkinder mit heutigem Wohnsitz in Berlin, denen in der Heimerziehung der Bundesrepublik von 1949-1975 oder in der Heimerziehung der DDR von 1949-1990 Unrecht und Leid widerfahren ist.
Der Bedarf nach einer Anlauf- und Beratungsstelle unter den ehemaligen Heimkindern ist offenbar deutlich höher, als ursprünglich erwartet. „Wir sind von der hohen Nachfrage überwältigt“, erläuterte der kommissarische Leiter der Berliner Beratungsstelle, Herbert Scherer, gegenüber der Nachrichtenagentur „dpa“. Die Mitarbeiter stoßen laut Aussage von Scherer bisweilen an ihre Kapazitätsgrenzen, da in der Regel für jeden einzelnen Fall rund zehn Stunden Zeit benötigt würden. Die drei psychologisch geschulten Sozialarbeiter seien oftmals kaum in der Lage dem Bedarf gerecht zu werden. Scherer sieht hier „eine Diskrepanz zwischen dem, was wir leisten können und dem, was notwendig wäre.“
Leid der Heimkinder kann nicht ungeschehen gemacht werden
„Den ehemaligen Heimkindern wurde großes und vielfaches Leid und Unrecht zugefügt. Ein Leid, das für Außenstehende kaum ermesslich ist, das auch nicht rückgängig oder ungeschehen gemacht werden kann“, erklärte die Berliner Senatorin für Bildung, Jugend und Wissenschaft im Januar bei Eröffnung der Beratungsstelle. Hier solle sichergestellt werden, dass den ehemaligen Heimkinder unbürokratische Hilfe und Unterstützung zukommt. Die Beratungsstelle ist auch für die Verteilung von Geldern beziehungsweise Entschädigungen aus dem Fonds-Heimerziehung zuständig. Dabei werde „Berlin den Handlungsspielraum bei der Gewährung der Hilfeleistungen nutzen und im Sinne der Betroffenen handeln“, betonte Scheeres Anfang des Jahres. Seither haben sich 1.200 Betroffene (800 Personen aus Heimen der DDR, 400 aus Heimen der BRD) an die Beratungsstelle gewandt.
Beratungsstelle für Heimkinder an der Kapazitätsgrenze
Den ehemaligen Heimindern gehe es meist um finanzielle Entschädigungen, doch viele wollen auch einfach nur ihre persönliche Geschichte erzählen, um das Erlebte aufzuarbeiten beziehungsweise zu verarbeiten, berichtet der kommissarische Leister der Beratungsstelle. „Für viele ist Reden eine große Erleichterung“, so Herbert Scherer gegenüber der „dpa“. Dem großen Bedarf der ehemaligen Heimkinder nach Beratung und Unterstützung stehen die drei Sozialarbeiter der Berliner Beratungsstelle jedoch oftmals relativ hilflos gegenüber. Ihnen fehlen schlichtweg die zeitlichen Kapazitäten, um jeden Fall zeitnah zu bearbeiten. Wer heute wegen eines Gesprächstermins mit der Beratungsstelle Kontakt aufnimmt, erhalte erst im Mai 2013 einen Termin.
Zwangsarbeit und Gewalt in den Heimen der BRD und DDR
Die Gespräche mit den ehemaligen Heimkindern offenbaren häufig schockierende Lebensgeschichten und fürchterliche Schicksale, berichtet Scherer. Laut Aussage des Experten waren rund 60 Prozent der Betroffenen in den Heimen Opfer von Zwang und Gewalt, was sie traumatisiert und „nachhaltig aus der Bahn geworfen“ habe. Die Möglichkeit einer freien Berufswahl blieb ihnen oftmals verwehrt und sie durften nicht einmal eine Schule besuchen. Zwangsarbeit war in den Heimen nicht ungewöhnlich, wobei für die unter Zwang geleistete Arbeit keine Sozialversicherungsbeiträge eingezahlt wurden. Entsprechend haben die Betroffenen heute einen deutlich niedrigeren oder gar keinen Rentenanspruch.
Fonds für ehemaligen Heimkinder
Aus diesem Grund wurde für ehemalige Heimkinder aus den westdeutschen Ländern Anfang des Jahres ein 120 Millionen Euro umfassender Fonds aufgelegt, der einen Rentenausgleich für die Betroffenen ermöglichen soll. Im Juli folgte ein Fonds mit 40 Millionen für ehemalige DDR-Heimkinder. Das Geld solle den Betroffenen auch helfen, erforderliche Therapien zu bezahlen, denn viele seien heute relativ mittellos, leben von Transferleistungen, sind schwerbehindert oder in Frührente, berichtet der kommissarische Leiter der Berliner Beratungsstelle.
Erschreckendes Schicksal der Heimkinder
Zu den Schicksalen der Heimkinder erläuterte Scherer, dass diese oft umso erschreckender seien, weil die Betroffenen als Kinder bereits eine schlimme Vorgeschichte durchlebt hatten, bevor sie in die vermeintlich besseren Heime kamen. Hier wurde ihnen jedoch keine Hilfe geboten, sondern stattdessen zusätzliches Leid zugefügt. Mit rabiaten Erziehungsmethoden wie eiskalten Zwangsduschen, Strafhungern und Schlägen haben die Betreuer die Heimkinder gefügig gemacht. „Die Kinder kamen sozusagen vom Regen in die Traufe“, erläuterte Scherer. So habe der Heimaufenthalt bei vielen schwere seelische Schäden hinterlassen. Studien haben beispielsweise ergeben, dass das Erkrankungsrisiko durch Traumatisierungen auch im späteren Leben sehr viel höher ist.
Rentenersatzleistungen und Entschädigungen für Heimkinder
Der Fonds-Heimerziehung verspricht nun eine späte Wiedergutmachung, wobei die Zahlungen einerseits die nicht gezahlten Sozialversicherungsbeiträge für die geleistete Zwangsarbeit und anderseits Entschädigungen für das widerfahrene Leid umfassen. So wurden über die Berliner Beratungsstelle laut Aussage des kommissarischen Leiters aus dem Ost- und West-Fonds insgesamt 450 000 Euro an Rentenersatzleistungen für Betroffene und 220.000 Euro Entschädigungen bewilligt. Beide Summen wurden zum Großteil an ehemalige Heimkinder aus der BRD ausgeschüttet. Allerdings erwartet Scherer hier in Zukunft eine Angleichung zwischen Ost und West, da bisher viele Anträge des erst seit Juli bestehenden DDR-Fonds schlichtweg noch nicht abschließend bearbeitete wurden. (fp)
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Bild: Martin Schemm / pixelio.de
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