Hirnforscher entwickeln Test mit unlogischen Fragen für Wachkoma-Patienten
02.08.2013
Einige Wachkoma-Patienten zeigen auffällige Hirnaktivitäten, wenn ihnen unlogische Sätze vorgelesen werden. Das fanden Bielefelder Neuropsychologen heraus. Im Rahmen ihrer Untersuchung zeigte sich, dass die meisten dieser Patienten nach drei bis fünf Jahren aus dem Koma erwachten. Die Forscher könnten damit einem wichtigen Indikator für das spätere Aufwachen auf die Spur gekommen sein. 14 der 15 Wachkoma-Patienten, deren Gehirn auf Sätze wie „Paul trinkt seinen Kaffee mit Zucker und Socken“ eine Reaktion zeigte, wachten später auf.
Test mit unlogischen Sätze löst bei einigen Wachkoma-Patienten Hirnreaktion aus
„Der Patient mit dieser Messkurve ist später wieder aufgewacht“, erläutert Inga Steppacher gegenüber der Nachrichtenagentur „dpa-infocom“, während sie ein Kurvendiagramm zeigt. „Wir nennen das ‘das mentale Hä’.“ Das Diagramm lässt einen deutlichen Ausschlag erkennen, der die Hirnreaktion des Patienten auf einen unlogischen Satz zeigt. Die veränderten Hirnströme werden durch Nonsens-Sätze wie „Klaus isst heute Nudeln mit Tomaten und Hosen“ ausgelöst. Die Neuropsychologin wertete mehr als 100 derartige Diagramme aus, um Aussagen zu den Heilungschancen von Patienten mit dem sogenannten apallischem Syndrom machen zu können. Den Hirnaktivitäten liegt ein Mechanismus im menschlichen Gehirn zugrunde, nach dem es in große Aufregung gerät, wenn Sätze unlogisch beendet werden. Denn das Gehirn sucht stets nach einem logischen Sinn. Findet es keinen, reagiert es mit messbaren Ausschlägen. Wie die Ergebnisse von Steppacher zeigen, funktioniert die „Sinnsuche“ auch bei einigen Wachkoma-Patienten. Obwohl sie scheinbar nichts von ihrer Umwelt mitbekommen, reagiert ihr Gehirn auf unlogische Sätze.
Zehn Jahre lang hatten Ärzte in den Reha-Kliniken Schmieder in Allensbach am Bodensee Wachkoma-Patienten unterschiedliche Geräusche, Texte und auch Nonsens-Sätze vorgespielt und gleichzeitig die Hirnaktivität der Frauen und Männer aufgezeichnet. „Eine riesige Datenfülle, die bislang aber noch nicht unter dem Aspekt ausgewertet worden war, ob bestimmte Reaktionen der Gehirnströme in Verbindung gebracht werden können mit der Wahrscheinlichkeit des Wieder-Erwachens“, berichtete die Neuropsychologin. Im nächsten Schritt untersuchte Steppacher, welche Patienten nach ihrer Entlassung aus der Klinik das Bewusstsein wiedererlangten. Dann analysierte sie wie diese auf Geräusche wie Händeklatschen oder Klopfen, auf die Texte und schließlich auf die unlogischen Sätze reagiert hatten. Nur aus den Daten der Nonsens-Sätze ließen sich Hinweise auf mögliche Heilungschancen ableiten. Mehr als 80 Prozent der Wachkoma-Patienten, deren Gehirn auf die unlogischen Sätze reagierte, erlangten später wieder Bewusstsein.
Erhöht Hirnreaktion auf unlogische Sätze die Heilungschancen von Wachkoma-Patienten?
Steppacher wertete die Krankheitsgeschichte von 87 Patienten aus, von denen 30 wenigstens ein Mindestmaß an Kommunikationsfähigkeit wiedererlangten. 15 der 87 Wachkoma-Patienten hatten eine Reaktion auf die unlogischen Sätze gezeigt. 14 von ihnen wachten im späteren Verlauf auf. Es erlangten zwar auch einige der anderen 72 Patienten wieder Bewusstsein, die nicht auf die Nonsens-Sätze reagiert hatten, jedoch mit nur 16 Fällen deutlich weniger als in der Gruppe mit einer Hirnreaktion.
„Wir haben hier einen guten Indikator für die Wahrscheinlichkeit des Aufwachens gefunden. Das ist ein Meilenstein innerhalb der Wachkoma-Forschung.“ erläuterte Professor Johanna Kißler, die die Studie betreut hat, gegenüber der Nachrichtenagentur. Allerdings bedeute die Hirnreaktion nicht, dass die Patienten die Sätze inhaltlich verstanden hätten. Ihre Gehirne seien jedoch sehr wahrscheinlich trotz des Wachkomas zu einer Art Verarbeitung der Sprache fähig, über die die anderen Patienten nicht verfügten, berichtete Steppacher. „Für diese Reaktion müssen gleich mehrere Hirnstrukturen zusammen arbeiten. Wir vermuten, dass darin auch der Schlüssel zum Wieder-Erwachen liegt: dass das Gehirn zwar im Moment etwa durch einen Verkehrsunfall oder Schlaganfall schwer geschädigt ist, dass bestimmte Bereiche aber weiterhin korrekt arbeiten.“
Längere Reha-Phase für Wachkoma-Patienten
Armin Nentwig, Vorsitzender der Deutschen Wachkoma Gesellschaft „Schädel-Hirnpatienten in Not“ setzt sich bereits seit mehr als 20 Jahren für Betroffene und die Verbesserung ihrer Situation ein. „Wir haben das immer schon gesagt: Schaut genau hin, wie die Patienten reagieren. Aber es muss eben erst messbar und wissenschaftlich nachweisbar sein, bevor es Beachtung findet“, kommentierte Nentwig das Ergebnis der Studie gegenüber der Nachrichtenagentur. Sie sei ein „Schritt in die richtige Richtung“.
„Es muss aber noch viel mehr geforscht werden. Wir wissen viel zu wenig über dieses Krankheitsbild, das zunehmend an Bedeutung gewinnt“, erläuterte Nentwig. Sein Sohn fiel 1988 nach einem Skiunfall ins Wachkoma. Nach sechs Monate starb er. Seiner Ansicht nach sei es „wichtig, dass solche Ergebnisse dazu führen, dass die aktive Reha-Phase verlängert wird“. Häufig würden die Patienten zu schnell entlassen werden und in die Pflege „abgeschoben“ werden.
Doch wie die Studie der Bielefelder Hirnforscher zeigt, besteht auch noch nach einigen Jahren die Chance ins Leben zurückzukehren. „Wir haben gesehen, dass von den Patienten, die sich erholt haben, fast die Hälfte erst nach drei bis fünf Jahren aufgewacht ist“, sagte Steppacher. Es sind weitere Untersuchungen geplant. So soll getestet werden, wie Wachkoma-Patienten darauf reagieren, wenn die unlogischen Sätze beispielsweise von der eigenen Mutter gesprochen werden und somit Gefühle hinzukommen.
Warum fallen Menschen ins Wachkoma?
Jedes Jahr fallen etwa 3.000 Menschen in Wachkoma. Auslöser sind Hirnverletzungen durch Autounfälle, Hirnblutung durch ein geplatztes Gefäß oder ein Herzstillstand mit längerem Sauerstoffmangel des Gehirns.
Die Schädigung kann unterschiedliche Bereiche betreffen. Während in einigen Fällen die äußere Hirnrinde, das sogenannte Großhirn, verletzt ist, das für die Verarbeitung von Reizen und die Wahrnehmung zuständig ist, kann bei anderen Patienten das Mittelhirn der geschädigte Bereich sein. Das Mittelhirn befindet sich unterhalb des Großhirns und verfügt über wichtige Bereiche für die Reizweiterleitung. Auch eine Schädigung des Hirnstamms, dem ältesten Areal des Gehirns, kann dazu führen, dass Patienten ins Wachkoma fallen. Anhand spezieller Verhaltenstests können Ärzte und Hirnforscher herausfinden, ob der Betroffene noch etwas wahrnimmt oder es irgendeine Reaktion auf die Umwelt gibt. Wachkoma-Patienten, die das Bewusstsein zurückerlangen, sind häufig ein Leben lang auf Hilfe angewiesen. (ag)
Bild: Michael Bührke / pixelio.de
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