Protestaktion gegen Diskriminierung psychisch Kranker
26.10.2013
Seit wenigen Tagen machen Menschen auf Twitter unter #isjairre auf die Diskriminierung psychisch Kranker aufmerksam. Die Protestaktion ist vor allem vor dem Hintergrund der zunehmenden Ablehnung der seelisch Erkrankten wichtig.
Diskriminierende sind irre
Seit Mittwoch teilen etliche Nutzer auf Twitter unter dem Hashtag „isjairre“ ihre schlechten Erfahrungen im Umgang mit seelischen Leiden mit. Die Initiatoren wollen damit zeigen, dass nicht die psychisch Erkrankten irre sind, sondern diejenigen, die sie aufgrund ihrer Krankheit diskriminieren. Betroffene thematisieren dabei ihren Alltag mit einer Depression, Burnout, Traumata und anderen psychischen Störungen. Wie brisant das Thema hierzulande ist, zeigt sich unter anderem daran, dass „isjairre“ bereits nach wenigen Stunden auf Platz zwei der deutschen Trending Topics auf Twitter landete.
Ähnliche Debatten zu Sexismus und Rassismus
Die aktuelle Debatte erinnert an ähnliche Vorgänger wie „Aufschrei“ und „schauhin“, unter denen seit Monaten über Sexismus und Rassismus im Alltag getwittert wird. Initiiert wurde die Aktion von der 21-jährigen Hengameh Yaghoobifarah, die selbst von einer psychischen Krankheit betroffen ist. Die Studentin der Medien- und Kulturwissenschaft hatte unter ihrem Nutzernamen @Sassyheng die Frage aufgeworfen, ob es einen Bedarf für einen Hashtag zum Thema Diskriminierung von psychisch Erkrankten gebe. „Die Resonanz war sehr hoch, also haben wir nach dem passenden Begriff gesucht. Die Idee war, ein Wort zu wählen, das eigentlich negativ besetzt ist, aber im Alltag umgangssprachlich viel verwendet wird. Wir kamen auf „irre“, so Yaghoobifarah.
Umgang in Schweden offener
Auch wenn die 21-Jährige, die in Freiburg studiert, derzeit wegen einem Auslandssemester in Schweden ist, sollten die Tweets trotzdem deutschsprachig sein. Sie meint: „In jedem Land gehen die Menschen anders mit psychischen Störungen um. In Schweden erlebe ich zum Beispiel, dass das Thema weniger tabuisiert wird und die Leute offener sind.“ Mit der großen Resonanz der Betroffenen habe sie nicht gerechnet und verweist auf den positiven Effekt der Aktion auf Twitter: „Der Vorteil eines einheitlichen Hashtags zum Thema ist, dass man so gezielt nach dem Thema suchen kann und die Probleme in gesammelter Form sichtbar gemacht werden.“
Psychische Erkrankungen keine Randerscheinung
Auch wenn heutzutage Medien und Betroffene seelische Leiden viel breiter als noch vor wenigen Jahren thematisieren, wissen viele Menschen jedoch nicht, was es bedeutet, psychisch krank zu sein. Nicht nur die Patienten selbst, sondern oft genug auch deren Angehörige müssen sich daher immer wieder gegen Stigmatisierung wehren. Und das obwohl es sich bei solchen Erkrankungen keineswegs um eine Randerscheinung handelt. So beruhe laut der Krankenkasse DAK mittlerweile jede achte Krankschreibung auf psychischen Störungen. Das ist ein Anstieg um 74 Prozent seit 2006. Außerdem würden Berichte der Deutschen Rentenversicherung belegen, dass mehr als vier von zehn Menschen, die in Frührente gehen, psychische Leiden als Gründe angeben würden. Auch die Kosten steigen kontinuierlich. So belaufen sich in Deutschland die Ausgaben für psychische Krankheiten und Verhaltensstörungen auf mehr als 28 Milliarden Euro pro Jahr – etwa zehn Prozent der jährlichen Gesundheitskosten.
Inakzeptanz und Diskriminierung
Yaghoobifarah will mit „isjairre“ dazu beitragen, mehr Sensibilität für das Thema der Diskriminierung der Betroffenen zu schaffen, etwa beim Sprachgebrauch: „Vielen ist gar nicht bewusst, dass ihre Sprache abwertend ist, wenn sie sagen „Das ist ja voll irre!“ oder „Das ist ja total krank!“ Die Nutzer teilen in ihren Tweets mit, welche Erfahrungen sie mit Inakzeptanz und Diskriminierung machen mussten oder berichten von unangenehmen Szenen beim Medikamentenkauf. Es wird auch darauf aufmerksam gemacht, dass es Probleme bei der Versorgung psychisch Kranker gibt, etwa wegen knapper Therapieplätze.
Ablehnung ist schlimmer geworden
Bereits kurz nachdem der Hashtag ins Leben gerufen wurde, haben ihn bereits die ersten Nutzer missbraucht und sich über psychische Störungen lustig gemacht. Auch böswillige Anschuldigungen fehlen dabei nicht. So meinte auch die Initiatorin: „Und tatsächlich gibt es auch Twitterer, die Betroffenen – mal wieder – Hunger nach Aufmerksamkeit zu schimpfen.“ Auch der Autor des Buches Stigma psychische Krankheit und Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie, Asmus Finzen, verweist auf die Wichtigkeit des Themas: „Die Stigmatisierung der Betroffenen ist ein ganz zentrales Problem.“ Er sieht sogar eine Verschlechterung beim Umgang mit den Erkrankten: „Trotz großer Kampagnen ist die Ablehnung schlimmer als noch vor zwanzig Jahren.“
Freundschaft mit Erkrankten nicht vorstellbar
Ein deutsches Forscherteam hatte 1990 eine repräsentative Untersuchung zur Einstellung der Menschen zu psychisch Kranken durchgeführt und diese 2011 wiederholt. Wie Finzen in der aktuellen Ausgabe der Psychosozialen Umschau schreibt, sei ein Ergebnis gewesen, dass „Während 1990 knapp ein Fünftel der Befragten keine Schizophreniekranken als Nachbarn dulden wollte, war es 2011 fast ein Drittel. Am Arbeitsplatz war das nicht anders. Während sich 1990 zwei Fünftel nicht vorstellen konnten, mit einem Psychosekranken befreundet zu sein, war es 2011 mehr als die Hälfte.“ Er meinte, dass daher Kampagnen wie #isjairre umso wichtiger seien.
Protest aus der Gesellschaft heraus
Der Arzt sagte außerdem: „Es bleibt abzuwarten, wie sich diese spannende Aktion entwickelt.“ Die Aktion sei auf alle Fälle vielversprechend, da sie von unten initiiert wurde. „Großen Kampagnen sind dem grundsätzlichen Irrtum aufgesessen, dass sie die Gesellschaft verändern können“, so Finzen. Da der Protest aber hier aus der Gesellschaft selbst komme, hätte er mehr Substanz. Yaghoobifarah erklärte zu „isjairre“: „Es geht um die Sichtbarmachung und das Thematisieren von Unterdrückung – und zwar von Seiten der Betroffenen.“ (ad)
Bild: Alexander Klaus / pixelio.de
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