Burnout gab es bereits vor 100 Jahren
24.03.2014
Im Zusammenhang mit Burnout wird immer wieder von einer sogenannten Modediagnose gesprochen. Doch so modern ist das Phänomen gar nicht. Bereits vor hundert Jahren litten vor allem Berufstätige unter schwerem Stress, der ihnen auf die Nerven schlug. Damals wurde das Krankheitsbild Neurasthenie genannt.
Von der Taschenuhr zum Smartphone
Auch schon vor 100 Jahren wurden wachsende Städte, zunehmender Verkehr und mehr Technik im Alltag als Faktoren für Stress erkannt. Ein Grund für innere Unruhe war damals beispielsweise die Taschenuhr, auf die manche Menschen immerzu guckten, um sich ja nicht zu verspäten. Heutzutage wird der ständige Blick aufs Smartphone als Gefährdung für die Seelengesundheit ausgemacht. Das Phänomen, das heute Burnout genannt wird, wurde vor 100 Jahren als Neurasthenie bezeichnet. Der Erfolgsautor Florian Illies schreibt in seinem Bestseller „1913“ über den österreichischen Autor Robert Musil (1880-1942): „Spötter sangen: „Raste nie und haste nie, sonst haste die Neurasthenie.“ Der Schriftsteller sei 1913 zu einem Nervenarzt gegangen, da er unter dem „Stumpfsinn“ seiner damaligen Arbeit als Bibliothekar an der Technischen Hochschule in Wien gelitten habe.
Burnout hieß damals Neurasthenie
Musil schilderte dem Arzt, dass er an Anfällen von Herzklopfen mit jagendem Puls leide, Zuckungen beim Einschlafen habe sowie eine Verdauungsstörung verbunden mit Depressionszuständen, körperlicher und psychischer Ermüdung. Wie Illies in seinem Buch schreibt, würde man dies heute Burnout nennen, damals lautete die Diagnose jedoch: Neurasthenie. Ab Ende des 19. Jahrhunderts war dieses Krankheitsbild ein weit verbreitetes Phänomen und bereits um 1900 wurde es in Mitteleuropa wie eine Epidemie wahrgenommen, um in den Jahren vor 1914 eine der häufigsten Diagnosen überhaupt zu werden.
Diagnosen sind Importe aus den USA
Der Bielefelder Historiker Joachim Radkau, der Experte für Mentalitäts-, Medizin- und Umweltgeschichte ist, erläuterte: „Zwischen dem rasanten Anwachsen der Klagen über ‘Burn-out’ in den letzten beiden Jahrzehnten und der ‘Neurasthenie’-Welle ein Jahrhundert davor gibt es auffällige Analogien.“ Es handele sich bei beiden Diagnosen um Importe aus den USA und in beiden Fällen seien sie besonders im deutschen Kulturraum eingeschlagen. Der Begriff „Neurasthenie“ wurde durch den New Yorker Nervenarzt George M. Beard ab 1880 bekannt gemacht. „Dieses Leiden wurde vielfach mit Fernwirkungen der elektrischen Revolution jener Zeit in Verbindung gebracht ähnlich wie heute Burnout mit der digtialen Revolution, der Reizüberflutung durch das Internet und der ständigen Erreichbarkeit über das Mobiltelefon“, so Radkau.
Kaiser Wilhelm II. galt als Oberneurastheniker des Reichs
Wie der Historiker weiter berichtete, galt in der zeitgenössischen Literatur das „Hetzen und Jagen“ des modernen Wirtschaftslebens als gängige Ursache. Doch damalige Patientenakten würden auch darauf hinweisen, dass sexuelle Frustration mindestens ebenso stark im Spiel war. Auch Sigmund Freuds Fixierung auf sexuelle Ursprünge der Neurosen sei nur vor diesem Hintergrund zu verstehen. Der Soziologe Max Weber (1864-1920) ist ein weiteres prominentes Beispiel. In seinen Korrespondenzen wimmelte es nur so von Nervenklagen. Der „Nervendiskurs“ gelangte in den Jahren vor 1914 dann auch mehr und mehr in die Politik. „Der Vorwurf der Nervenschwäche flog hin und her, gerade unter solchen Politikern, die selber im Verdacht der Nervosität standen. Wilhelm II. galt Insidern als der Oberneurastheniker des Reichs“, so Radkau. Der Historiker meint, dass der deutsche Kaiser in der Juli-Krise 1914 den Kriegstreibern nachgegeben habe, erkläre sich aus dem Bestreben, dem Verdacht der Nervenschwäche keine Nahrung zu geben.
Gefährliche Medikalisierung der Politik
Und auch 2014, hundert Jahre später, sieht Radkau eine Parallele: „Auch heute droht das Nerven-Palaver auf die Politik überzuspringen; da liest man,zwischen der EU und Russland werde um die Ukraine ein ‘Nervenkrieg’ geführt, so als ob die EU durch Härte gegenüber Moskau ihre Nervenkraft unter Beweis stellen müsse.“ Allerdings sei eine solche „Medikalisierung der Politik“ gefährlich „und läuft einem nüchternen Abwägen der eigenen Interessen zuwider“, so der Historiker. Er ergänzte: „Da kann man Bundeskanzlerin Angela Merkel zugutehalten, dass sie sich sehr im Gegensatz zum letzten deutschen Kaiser zumindest gegen eine Unterstellung nicht verwahren muss: gegen die der Nervosität.“
Problematische Diagnose
Ein Problem, das sich vermutlich auch schon damals stellte, ist die Diagnose. Heutzutage wird Burnout sehr ungenau für verschiedenste Symptome verwendet. Zu diesen gehörten Erschöpfung, Müdigkeit, Schlaflosigkeit sowie ein starkes Verlangen nach Rückzug. Jedoch könnten diese Beschwerden auch Anzeichen für eine Depression sein. Ob also tatsächlich ein Burnout dahintersteckt, ist oft nur schwer diagnostizierbar. Laut Schätzungen würden etwa ein Viertel bis ein Drittel der Deutschen angeben, unter dem Gefühl, ausgebrannt zu sein, zu leiden. Konkrete Zahlen der tatsächlich von Burnout Betroffenen ließen sich jedoch aufgrund der Unschärfe in der Abgrenzung zu anderen psychischen Erkrankungen nur schwer angeben. (sb)
Autoren- und Quelleninformationen
Wichtiger Hinweis:
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