Alkoholsucht bleibt bei älteren Menschen häufig unbemerkt
17.07.2014
Alkoholabhängigkeit betrifft alle Gesellschaftsschichten und fast alle Altersgruppen. Bei einer Personengruppe bleibt die Sucht jedoch meist unbemerkt: Senioren trinken heimlich und schämen sich für ihr Verhalten. Therapieangebote speziell für ältere Menschen gibt es bislang zudem kaum. Eine neue Kurzzeittherapie könnte Betroffenen einen Ausweg bieten.
Mehr als ein Viertel der Männer und knapp ein Fünftel der Frauen über 65 Jahre konsumiert gesundheitlich bedenkliche Mengen Alkohol
Neben der Nikotin-Abhängigkeit gehört Alkoholsucht zu den verbreitetsten Abhängigkeiten in der westlichen Welt. Hier ein Gläschen, da ein Gläschen und das Feierabendbier nicht zu vergessen – Wein, Bier und Schnaps sind für viele Menschen fester Bestandteil des alltäglichen Lebens. Das trifft nicht selten auch auf Senioren zu.
Einer Studie des Robert Koch-Instituts (RKI) zufolge nehmen 27 Prozent der Männer und 19 Prozent der Frauen im Alter ab 65 Jahren Alkoholmengen zu sich, die als gesundheitlich bedenklich gelten. Die Grenze liegt für Frauen bei 10 bis 12 Gramm reinem Alkohol pro Tag, was etwa 0,1 Liter Wein oder 0,25 Liter Bier entspricht. Bei Männern gelten etwa die etwa die doppelten Mengen.
Einsamkeit ist ein häufiger Auslöser für Alkoholabhängigkeit von Senioren
Die Nachrichtenagentur „dpa“ sprach mit einer Rentnerin über ihren Leidensweg. Einen Monat nach dem Tod ihres Mannes sei die 72-Jährige tief in die Sucht gerutscht und habe morgens bereits Wodka getrunken, berichtet die Frau. Dann folgte der tägliche Spaziergang, um Nachschub zu besorgen. Sie kaufte ihren Alkohol nie im selben Geschäft, weil sie sich für ihre Sucht schämte. „Ich habe damals gesagt: Ich bin der Welt abhandengekommen. Ich hatte keine Freude mehr am Leben und keinen Sinn.” Die 72-Jährige war verzweifelt. „In erster Linie war ich physisch am Ende. Wäre ich im Berufsleben gestanden, wäre mir das nicht widerfahren”, so die ehemalige Lehrerin. Inzwischen ist sie trocken. Es sei vor allem das Verhältnis zu ihrem Sohn gewesen, dass sie zur Abkehr vom Alkohol bewegt habe.
Bei Reinhard Pribyl war vor allem der Druck seines Arbeitgebers entscheidend. „Das war der Knackpunkt – da bin ich aufgewacht”, berichtet der 61-Jährige, der sich heute im Kreuzbund Diözesanverband für andere Alkoholkranke engagiert, gegenüber der Nachrichtenagentur. Pribyl ist seit 22 Jahren trocken. Auch die 72-Jährige hat wieder eine Aufgabe im Leben gefunden. Sie setzt sich in der Kinderbetreuung und Hausaufgabenhilfe ein. „Das ist wichtig, da werde ich noch gebraucht.”
Alkoholismus bei Senioren ist häufig ein Tabuthema
Alkoholabhängigkeit von Senioren wird häufig tabuisiert. Viele Menschen kommen auch nicht auf die Idee, dass eine ältere Dame undeutlich spricht, weil sie betrunken ist oder ein älterer Herr aus dem gleichen Grund unsicher geht. Selbst in Arztpraxen und beim Pflegepersonal ist das Thema häufig nicht präsent. Senioren werden vorrangig als „Alterspatient” mit Herz- oder Augenproblemen gesehen. Dass ein älterer Mensch aber zudem alkoholabhängig sein kann, tritt in den Hintergrund. Deshalb werden Anzeichen für einen riskanten Umgang mit Alkohol von Ärzten bei der Untersuchung von Senioren möglicherweise übersehen oder vernachlässigt. Hinzu kommt, dass der regelmäßige Konsum von Wein und Bier etwa auf Festen, beim Stammtisch und bei Vereinstreffen ein Bestandteil des sozialen Lebens ist und gesellschaftlich akzeptiert wird.
Wechselwirkungen von Medikamenten und Stärkungsmitteln können Alkoholsucht noch verstärken
Christa Merfert-Diete von der Hauptstelle für Suchtfragen erläutert gegenüber der Nachrichtenagentur, dass die Alkoholsucht bei Senioren durch Stärkungsmittel wie Klosterfrau Melissengeist, Doppelherz und Buerlecithin noch verstärkt werden könne. Sie alle enthielten Alkohol. In Kombination mit Medikamenten und insbesondere Schlafmitteln würden solche Geriatrika neue Suchtgefahren bergen. Senioren nehmen nicht selten eine Vielzahl unterschiedlicher Arzneimittel ein. „Das kann zu einer Abhängigkeitspotenzierung führen”, so die Expertin. Aber: „Ein alter Körper verträgt weniger.”
Als Gründe für den späten Einstieg in die Alkoholabhängigkeit nennt Merfert-Diete unter anderem den Verlust des Partners, Einsamkeit und die Umstellung auf ein Leben als Rentner. „Es gibt persönliche Schicksalserlebnisse, die auch dazu führen können, dass jemand verstärkt anfängt zu trinken.“ Hinzu komme, dass Senioren ihr Leben leichter an den Alkohol anpassen könnten als Jüngere: „Ich muss jetzt nicht aufpassen – ich fahre nicht mehr Auto.“
Neue Kurzzeittherapie Bei Alkoholsucht von Senioren
Obwohl Alkoholabhängigkeit unter Senioren keine Ausnahme ist, wie die Zahlen der RKI-Studie belegen, gibt es bislang nur wenig Therapieangebote, die speziell auf ältere Menschen zugeschnitten sind. Der Suchtforscher Gerhard Bühringer von der Technischen Universität Dresden erläutert im Gespräch mit der Nachrichtenagentur, dass viele Menschen der Meinung seien, dass Alkoholismus bei Senioren weniger problematisch anzusehen sei als bei Jüngeren. „Dann soll man ihnen doch den Alkohol lassen bis zum Tod”, sei die verbreitete Ansicht.
Bühringer leitet das private Institut für Therapieforschung in München. Mit Kollegen in Dänemark und den USA will er im Rahmen des Projekts „Elderly“ ältere Menschen dabei unterstützen, ihren Weg aus der Alkoholsucht zu finden. Eine mehrjährige Therapie oder ein stationäres „Wegschließen“ sei dafür nicht nötig. Das solle mit dem Projekt gezeigt werden. Begleitet werden soll die neue Kurzzeittherapie von einer Studie mit 1.200 Betroffenen, an der je 200 Menschen aus Dresden und München und je 400 Personen aus den USA und Dänemark teilnehmen.
Das Konzept wird bereits in die Praxis umgesetzt. So findet es in den Beratungsstellen der Caritas und der Suchthilfe Prop Anwendung. „Wir wünschen uns, dass mehr ältere Menschen zu uns finden”, sagt Prop-Geschäftsführer Andreas Czerny gegenüber der Nachrichtenagentur. „Die Scham ist gerade bei dieser Gruppe ein schwierig kalkulierbares Moment.” Alkoholabhängigkeit im Alter hat meist andere Auslöser als bei jüngeren Menschen. Für viele betroffene Senioren können Konzepte gegen Einsamkeit und Sinnentleerung einen Weg aus der Sucht bieten.
Autoren- und Quelleninformationen
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.