LSG München: Spezifische Sehstörung muss nicht vorliegen
Auch eine schwere Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörung kann zum Anspruch auf Blindengeld führen. Eine spezifische Sehstörung muss hierfür nicht nachgewiesen werden, entschied das Bayerische Landessozialgericht (LSG) in München in einem am Donnerstag, 12. Januar 2017, veröffentlichten Urteil im Fall einer an schwerer Alzheimer-Demenz erkrankten Frau (Az.: L 15 BL 9/14). Wegen grundsätzlicher Bedeutung ließ das LSG die Revision zum Bundessozialgericht (BSG) in Kassel zu.
Vertreten durch ihren Sohn hatte die Frau bayrisches Blindengeld und die Zuerkennung des Merkzeichens „Bl“ für blinde und hochgradig sehbehinderte Menschen beantragt. Der Sohn trug vor, dass seine Mutter infolge ihrer Alzheimer-Demenz völlig hilflos, komatös und objektiv physisch wie geistig nicht in der Lage sei, noch irgendwas sinnvoll wahrzunehmen oder zu verarbeiten.
Der Augenarzt betonte, dass sich die Sehschärfe nicht prüfen lasse, Blindheit könne aber nicht nachgewiesen werden. Es gebe eine „positive Reaktion auf Licht“.
Das Land Bayern lehnte den Antrag der Frau ab. Es gebe keinen Anhaltspunkt dafür, dass eine spezielle Schädigung der Sehstrukturen für die fehlende Wahrnehmung von optischen Reizen verantwortlich sei. Ein vollständiger Ausfall der Wahrnehmung visueller Reize durch die vorliegenden Hirnveränderungen lasse sich nicht nachweisen. Die Auffassung, dass allein eine Bewusstseinsstörung Blindheit begründen könne, sei nicht haltbar. Denn dann müsste das Blindengeld auch als „Bewusstlosengeld“ angesehen werden.
Doch während des Rechtsstreits hatte das BSG am 11. August 2015 in einem anderen Fall entschieden, dass für einen Blindengeldanspruch nicht immer eine spezifische Sehstörung vorliegen muss (Az.: B 9 BL 1/14 R; JurAgentur-Meldung vom Urteilstag). Die Kasseler Richter rückten damit von ihrer bisherigen Rechtsprechung ab.
Es gebe keinen hinreichenden Grund, warum Menschen die „nur“ blind sind, Blindengeld erhalten, schwerst Hirngeschädigte, die visuelle Reize nicht verarbeiten können und zusätzlich noch weitere Sinneseinschränkungen haben, aber nicht. Allein unter dem Gesichtspunkt des Gleichbehandlungsgrundsatzes müsse auch schwer Hirngeschädigten das Blindengeld gewährt werden.
Das LSG folgte nun in seinem Urteil vom 19. Dezember 2016 dieser Auffassung. Ob jemand „blind“ sei und Blindengeld beanspruchen könne, hänge von der fehlenden Möglichkeit der Sinneswahrnehmung und deren Verarbeitung ab. Im konkreten Fall sei der Blindheitsnachweis aber erbracht. Zwar sei die Wahrnehmung der Klägerin nicht durch Schädigungen im Sinnesorgan und der Leitung zum Gehirn gestört. Es liege aber eine visuelle Verarbeitungsstörung im Gehirn vor.
Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bestehe die Störung der Klägerin darin, „dass die Signale der verschiedenen Sinnesmodalitäten nicht identifiziert, mit früheren Erinnerungen nicht verglichen und nicht benannt werden können“, so das LSG. Gehe die Aufhebung der visuellen Wahrnehmungsfähigkeit auf eine allgemeine Beeinträchtigung wie eine schwere Aufmerksamkeits- oder Gedächtnisstörung zurück, sei deshalb der Blindengeldanspruch nach der neuen BSG-Rechtsprechung nicht ausgeschlossen. Der Klägerin stehe daher Blindengeld zu. fle/mwo
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