Geiersterben durch Diclofenac
Ein Geiermagen scheint unverwüstlich. Die Aasfresser verkraften problemlos Gifte, die entstehen, wenn Kadaver sich zersetzen, und die für Menschen schwere gesundheitliche Folgen hätten. Doch umgekehrt ist für Geier manches Gift, was Menschen als Medizin verwenden. Dazu zählt das Schmerzmittel Diclofenac.
Inhaltsverzeichnis
Vielerlei Bedrohungen
Die Ursachen, die Tierarten bedrohen, sind vielfältig: Zerstörung von Lebensraum, unkontrollierte Jagd, Verfolgung als Nahrungskonkurrenten, Einschleppen von Fressfeinden auf Inseln, deren Bewohner keine Schutzmechanismen ihnen gegenüber entwickelten, Verlust von Nahrungsquellen, Konkurrenz durch Nutztiere, Fang für private Halter, Klimaerwärmung oder Umweltgifte.
Häufigkeit schützt nicht vor Ausrottung
Dabei kann heute eine Tierart, die vor wenigen Jahren noch weit verbreitet war, heute „über Nacht“ vom Aussterben bedroht sein. Häufigkeit schützt nicht vor dem Aussterben, wie das Beispiel der Wandertaube zeigt.
Ihre Anzahl übertraf vermutlich die aller anderen Vogelarten Amerikas, einzelne Schwärme verdunkelten den Himmel, und die Äste großer Bäume brachen unter dem Gewicht der Vögel zusammen. Jagd, die Vernichtung der Brutkolonien und das Abholzen der großen Wälder im Osten der USA sorgten dafür, dass die Wandertaube für immer verschwand. Und andere ebenfalls einst in Mengen vorkommende Arten wie Unterarten teilten ihr Schicksal. Dazu gehören das Quagga, eine Form des Steppenzebras, oder der Carolina-Sittich.
Von 40 Millionen auf wenige tausend
In Indien lebten noch 1990 dutzende Millionen Geier. Auf dem Subkontinent leben Indien-, Bengal- und Dünnschnabelgeier, außerdem der kleine Schmutzgeier, der in Felsregionen lebende Bartgeier und der Schneegeier des Himalayas. Drei der Arten, Indien-, Bengal- und Dünnschnabelgeier sind heute stark bedroht – critically endangered. Laut den internationalen Standards ist dies die letzte Kategorie vor: ausgestorben.
Der Bengalgeier, einst der häufigste Greifvogel der Welt, ist heute einer der seltensten. Seit 1990 sank der Bestand der drei Geierarten um 99,9 %. Von circa 40 Millionen blieben wenige tausend. Oder: Nur jeder tausendste Bengalgeier überlebte.
Massensterben durch Arzneimittel
In den 1990er Jahren setzte in Indien das dramatische Geiersterben ein, wobei die Geier in Nationalparks und Tigerschutzgebieten am wenigsten betroffen waren. Die Forscher stocherten erst einmal im Nebel. Handelte es sich um die Wirkung von Pestiziden? Um unbekannte Infektionskrankheiten?
Die Kadaver ließen darauf keine Rückschlüsse zu. Die toten Vögel zeigten vielmehr eine viszerale Gicht und starke Ablagerungen von Harnsäure in den inneren Organen. Dies führte, verbunden mit akutem Nierenversagen, zum Tod der Vögel.
Der Tierarzt Dr. Wolfgang Baumgart erörtert die Aufklärung des Sterbens: Schließlich konnte das als Tierarzneimittel verwendete Diclofenac als Todesursache bestimmt werden. Es wirkt für die Nieren der Geier wie ein starkes Gift: Vögel scheiden die Abbauprodukte des Eiweißstoffwechsels nämlich nicht wie Säugetiere als wasserlöslichen Harnstoff aus, sondern als Harnsäure.
Die tödliche Dosis von Diclofenac liegt für Geier bereits bei 0,1-0,2 mg/kg Körpergewicht. Eine Aufnahme von 1,5 mg wirkt für Geier in zwei Tagen tödlich.
Circa 5 % der Tierkadaver die die Geier fraßen, waren mit Diclofenac belastet. Um den Tod herbeizuführen, hätte, laut Baumgart, 1 % ausgereicht.
Diclofenac
Dichlorophenylaminophenylaceticacid, kurz Diclofenac ist ein Mittel gegen Schmerzen und Entzündungen. Es dient als Arznei gegen Rheuma, Prellungen, Zerrungen und Arthrosen. Der Wirkstoff hemmt die Cyclooxygenasen und blockiert insofern Entzündungen.
Seit 1974 ist es auf dem Markt und eines der am häufigsten verkauften Schmerzmittel. Es lässt sich als Tabletten, Kapseln, Dragees, Tröpfchen, Zäpfchen oder Injektionslösung erwerben, aber auch als Pflaster, Gel oder Salbe.
In Deutschland ist der Wirkstoff apotheken- bisweilen auch verschreibungspflichtig. Die Höchstdosis pro Tag liegt bei 50 mg, verteilt auf zwei bis vier Tabletten.
Nebenwirkungen bei Menschen
Zu den Nebenwirkungen bei Menschen gehören Beschwerden in Magen und Darm, Störungen bei der Blutbildung und Überempfindlichkeit gegenüber Außenreizen, Schwindel und Müdigkeit sowie erhöhte Leberwerte. Auch die Nieren können Schaden nehmen – das tritt bei Menschen indessen sehr selten auf. Bei langfristiger Überdosierung steigt das Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden.
Die verbreitetste Nebenwirkung von Diclofenac bei Menschen sind Magenblutungen. Möglich sind ernstere Störungen wie ein Magen-Darm-Durchbruch. Wer für derlei Beschwerden empfänglich ist, erhält Diclofenac zusammen mit einem Magenschutzpräparat.
Warum Diclofenac?
Bis in die späten 1980er Jahre hatten Tierärzte in Indien keinen Zugriff auf Diclofenac. Dann stieg die Produktion, laut Baumgart, auf jährlich 800 t, und das für die gleichen Symptome wirksame Meloxicam war mindestens zehnmal so teuer. Gegen 1990 verwendeten Rinderhalter Diclofenac bei rund 70% der Schmerzbehandlungen.
Die Injektion des Schmerzmittels kann, laut Baumgart, das Sterben von 40 Millionen Geiern allein nicht erklären. Denn injiziertes Diclofenac wird schnell ausgeschieden und zu 30 % in der Leber metabolisiert. Die für Geier tödlichen Mengen seien bei Injektionen nur zu erwarten, wenn die Tiere die Spritze ungefähr 24 bis 72 Stunden vor dem Tod erhalten hätten.
Pulver im Trinkwasser
Baumgart recherchierte, dass Diclofenac bis 2006 auch in Pulverform verabreicht wurde, und zwar, um die Schmerzen von Arbeitstieren zu lindern, vor allem für Rinder, die als Zug- und Lasttiere eingesetzt wurden – und zwar inflationär.
Lahmten Tiere oder hatten sie anderweitig Probleme, sich zu bewegen, dann verabreichten die Bauern in Wasser aufgelöstes Diclofenac routinemäßig, was in den meisten Ländern nicht zulässig ist.
Dadurch sammelten sich vermutlich große Mengen des Präparats im Pansen der Rinder an, da Diclofenac im Verdauungstrakt sehr stabil ist, so Baumgart. Der Pegel des Wirkstoffs blieb zudem über lange Zeit im Körper erhalten.
Warum Bengalgeier?
Ein weiteres Indiz dafür, dass die orale Zufuhr von Diclofenac als Schmerzmittel das Geiersterben auslöste, ist, laut Baumgart, die Tatsache, dass die Geier zuerst in den Gebieten mit intensiver Landwirtschaft ausstarben.
Zudem erklärt diese Schmerztherapie, warum Schmutzgeier und Bartgeier vergleichsweise glimpflich davon kamen: Die kleinen Schmutzgeier können mit ihren Schnäbeln den Bauchraum nicht öffnen und ernähren sich von dem, was die großen Geier überlassen. Der Bartgeier lässt Knochen aus großer Höhe hinab fallen und frisst das Innere der Markknochen.
Die drei heute fast ausgestorbenen und ehemals Allerweltsgeier öffnen jedoch die Bauchdecke und fressen die Eingeweide. Damit nahmen sie den Hauptteil des Giftes auf.
In Gebieten mit Weidewirtschaft gingen die Geierbestände nicht in gleichem Umfang zurück: Das Weidevieh wird in Indien nicht oder nur wenig mit Schmerzmitteln behandelt, im Unterschied zu den Arbeitstieren und den heiligen Kühen.
Heilige Kühe
Die bei den Hindus heiligen Kühe sind ein Schlüssel für das Ausmaß des Geiersterbens. Der Ethnologe Marvin Harris erklärte die Heiligkeit der Rinder aus der materiellen Bedeutung der lebenden Tiere.
Erstens bringen die Kühe Bullen auf die Welt, die später als Zugtiere arbeiten und die Basis der traditionellen Landwirtschaft in Indien stellten. Ein absolutes Tötungstabu für Rinder war, laut Harris, eine Regel, um nicht durch eine kurzfristige Versorgung mit Fleisch langfristig zu verhungern.
Rohstoffe aus Rindern
Zudem bieten die lebenden Rinder im ländlichen Indien existentielle Materialien für den täglichen Bedarf: Die getrockneten Kuhfladen dienen als Brennmaterial wie Dünger und zerstampft sogar als Bodenbelag der Hütten und als Baustoff. Der Urin ist ein Desinfektions-, die Milch Grundnahrungsmittel.
Die Kühe gelten als Teil der Familie: Sie werden gestreichelt und gefüttert, getränkt und gepflegt, wenn sie krank werden.
In der Ernährung sind sie anspruchslos. Vermeintlich herrenlose Rinder laufen tagsüber in den indischen Städten herum und fressen organische Abfälle. So dienen sie, zusammen mit Hunden, Schweinen, Schwarzmilanen und Geiern außerdem als Müllabfuhr.
Der Kühe täglich Diclofenac
Das billige Diclofenac war das tägliche Mittel gegen die Alterserscheinungen der umsorgten Rinder. Zum Beispiel leiden alte Kühe oft unter Arthrosen, und erkrankte Tiere, die starben, hatten hohe Rückstände von Diclofenac im Körper.
Baumgart vermutet zudem ein heimliches Entsorgen kranker Tiere. Hindus ist es verboten, Kühe zu töten; um sich alter wie nutzloser Rinder zu entledigen, inszenieren sie bisweilen „Unfälle“, so Baumgart, oder vergiften die Tiere. Auch solche „verunfallten“ Rinder könnten, laut Baumgart, hohe Spiegel an Diclofenac im Körper haben.
Eine gesellschaftliche Katastrophe
Baumgart schreibt: „Die Folgen des Geiersterbens sprengten in ihrer Globalität und ihren volkswirtschaftlichen Auswirkungen den Rahmen bisheriger Artenschutzproblematiken. Diese reichten weit in den umweltpolitischen, sozial-ökonomischen, kulturellen und religiösen Bereich.“
Ökologische Laien halten den Niedergang von Tierarten meist für ein isoliertes Phänomen, und Geier genießen in Europa keinen Niedlichkeitsbonus wie Pandabären. Dabei sind die großen Geier als Müllentsorger nicht nur Schlüsselarten im Ökosystem, sondern auch für die öffentliche Gesundheit in nicht industriellen Gesellschaften.
In Indien beseitigten die Geier vor dem großen Sterben die Kadaver von 300 Millionen Rindern. Ein ganzes Gewerbe, die Abdecker, zogen, mitten in den Großstädten, von Büffeln und Kühen lediglich die Haut ab, ließen das tote Tier liegen und holten sich kurz später die makellos gereinigten Knochen ab.
Seuchengefahr
In Indien gab es keine Alternativen zu diesem Entsorgen der Tierkadaver, und die Umweltschäden wie Seuchengefahren wuchsen extrem. Luft und Wasser wurde mit schädlichen Bakterien verseucht, unter anderem mit Anthrax, die Luft stank nach verfaulenden Leichen.
Hunde übernahmen die Lücke der Geier, und die Straßenhunde vermehrten sich von 8 Millionen im Jahr 1987 auf 29 Millionen in 2003. Auch die Rattenpopulationen explodierten. Mit den Hunden stieg die Zahl der Hundebisse: Trotz einer erfolgreichen Durchimpfung von 80 % gegen die Tollwut bis 2004 starben von 1992 bis 2002 mindestens 1737 Inder an der Seuche.
Einkommensverlust
Arme Inder verloren, so Baumgart, eine traditionelle Einkommensquelle: Im Unterschied zu Hunden lassen Geier nur die blanken Knochen übrig, und deren Verwertung zu Knochenmehl und Gelatine bescherte vielen Indern den Broterwerb.
Bei Hunden, Schweinen und anderen weniger effizienten Aasfressern bleiben hingegen Gewebereste über, die zu entfernen mit großen Mühen verbunden ist – außerdem ist die Gefahr, sich mit Krankheitserregern zu infizieren, gewaltig.
Heute müssen Tierkadaver meist abtransportiert, verbrannt oder begraben werden, was zusätzliche Mühen und Kosten verursacht.
Ende einer Kultur
In Indien leben Angehörige der ältesten monotheistischen Religion. In Indien als Parsen oder Feueranbeter bezeichnet, gehören sie zu den Zorastern, der Religion des vorislamischen Iran.
Die Zoroaster schufen das Gedankengebäude vom Widerstreit zwischen dem guten Gott (Ahuramazda) und seinem dunklen Gegenspieler (Ahriman), geflügelten Wesen mit menschlichen Körper, die zwischen Gott und Mensch vermittelten, die Figur des Messias und letztlich auch Himmel und Hölle.
Wesentliche Vorstellungen dieses Zoroastrismus flossen in das Judentum und von da in Christentum und Islam ein.
Für die Parsen ist es unvorstellbar, ihre Toten in der Erde zu begraben. Ein zentrales Element ihrer Religion sind die „Türme des Schweigens“, wo die Leichen in luftiger Höhe der Natur preisgegeben werden und so in den Lebenskreis zurück kehren. Diese Himmelsbestattung können nur die großen Geier erledigen.
In Indien genießen Geier generell, im Unterschied zu Europa, große Wertschätzung, und nicht umsonst platzierte Rudyard Kipling sie an prominenter Stelle im Dschungelbuch.
Tiger-Reservate: Ein Schlüssel zum Geierschutz
Die Inder lieben den Tiger, und die Hindus verwenden seine Körperteile nicht als Medizin. Zwar führte die Verbindung aus indischer Korruption und traditioneller Medizin in China auch in Indien zu einem Einbruch der Tigerbestände, doch seit der 1973 begonnen Kampagne „Save the Tiger“ etablierten sich bis 2015 48 Tigerreservate auf mehr als 2 % der Landesfläche. Heute gibt es in Indien 2.226 Tiger, ein Vielfaches der Restbestände in Indonesien oder Südostasien.
Diese Tigerreservate haben für die bedrohten Geier höchste Bedeutung. Die Tiger sorgen für ausreichend Kadaver, und die Beute besteht aus Wildtieren wie Hirschen und Wildschweinen, ist also nicht mit Diclofenac belastet.
Die Lebensräume sind in ihrer ursprünglichen Vielfalt erhalten – die Geier haben also nicht nur giftfreie Nahrung, sondern auch Nistplätze und ein geeignetes Terrain mit Schluchten, Felsen, Bäumen etc., in dem sie nach potenzieller Nahrung kreisen und ihre Jungen aufziehen können.
Tigerschutz ist Geierschutz
Die Geier sind durch einen fast militärischen Schutz der Reservate vor menschlichen Störungen geschützt.
In diesen Tigerreservaten (und anderen Nationalparks) ließen sich zudem Futterplätze für Geier einrichten – mit toten Nutztieren, die garantiert keine Rückstände an Diclofenac aufweisen.
Baumgart schreibt, dass sich von diesen Schutzgebieten die Geier wieder ausbreiten könnten. Tatsächlich stiegen die Zahlen von Indien-, Bengal- und Kahlkopfgeiern in verschiedenen Tigerreservaten.
Geier im Freilichtmuseum?
Heutige Nationalparks in Indien sind nicht nur ein Rückzugsgebiet für bedrohte Tierarten wie Tiger, Ganges-Gavial oder Panzernashorn, sondern leider auch eine Art „Freilichtmuseum“. Der Kaziranga-Nationalpark in Assam zum Beispiel bietet nicht nur eine Heimat für 80 % der letzten Panzernashörner, sondern enthält auch als einer der wenigen Orte auf der Welt die Schwemmflächen des Brahmaputra; der Ranthambore-Nationalpark mit seinen Palastruinen und dem Trockenwald (Dschungel) vermittelt nicht nur Dschungelbuch-Atmosphäre, sondern zeigt auch, wie weite Teile Rajasthans noch vor hundert Jahren aussahen.
Die „grüne Revolution“ bewahrte mit dem massiven Einsatz von Pestiziden zwar Millionen von Indern vor dem Hunger, verwandelte zugleich aber Bengalen von einer Wildnis aus Sumpf und Wald in eine leer geräumte Einöde: Die Rosenkopfente starb völlig aus, Tiger und Sumpfkrokodil, wilder Wasserbüffel und Maralhirsch hielten sich nur noch in Nationalparks.
Zum einen ist es vermutlich den indischen Religionen Hinduismus und Buddhismus zu verdanken, dass es in dem Land mit der zweitgrößten Bevölkerung der Welt überhaupt noch große Wildtiere gibt. In Europa wäre es kaum vorstellbar, dass hundert Kilometer von einer Großstadt mit 16 Millionen Einwohnern die größte Population von Tigern in der Welt lebt wie in den Sundarbans vor den Toren Kolkatas.
Zum anderen gehörten vor Diclofenac die Geier aber zu den Wildtieren, die von dem Bevölkerungswachstum sogar profitierten. Jede dritte von einer Milliarde Kühen lebt in Indien, und für die Geier boten deren Kadaver eine unerschöpfliche Nahrungsquelle.
Die heutigen Nationalparks sind nicht nur ein besonders geschützter Teil der Landschaft, sie stehen vielmehr zu dem sie umgebenden Land in scharfem Kontrast. Wie mit dem Lineal geschnitten, beginnt hinter dem Eingang des Ranthambore-Nationalparks eine andere Welt – Trockenwald statt einer ausgetrockneten Ebene.
Während die Geier aber bis vor kurzem noch in beiden Welten heimisch waren, zählen sie nun zur mit immensen Mitteln geschützten Fauna der Nationalparks.
Was bewirkte das Diclofenac-Verbot?
Nachdem Diclofenac als Ursache erkannt war, wurde es in Indien verboten. Die Realität sah aber anders aus. Weite Teile der Bevölkerung bekamen entweder vom Verbot nichts mit, oder hielten sich nicht daran. Der illegale Markt für das Arzneimittel florierte.
Zwar zeigten die Kontrollen Erfolge, doch die fielen spärlich aus. Ab 2008 nahmen die Diclofenac-Rückstände in Rinderkadavern lediglich um 4,3 % ab. Das belegte, dass die Bauern das Mittel weiterhin verwendeten. Der Ersatz Meloxicam war im Vergleich ausgesprochen teuer, und Untersuchungen ergaben, dass 36 % der Verkäufer nach wie vor mit Diclofenac handelten. In Nepal erwies sich das Verbot hingegen als Norm: 2011 hatten nur noch 0,6 % der Händler Diclofenac im Angebot.
Allerdings verkaufte in Indien kaum noch jemand Diclofenac in Pulverform – und das war, laut Baumgart, der Kern des Problems. In Tamil Nadu, Karnataka und Kerala hingegen war Diclofenac nicht verboten. Dort sind inzwischen die Geier fast vollkommen ausgestorben.
In Folge des Verbots nahmen Bengal-, Indien-, Schmutz- und Kahlkopfgeier auf extrem niedrigen Niveau wieder zu: Bengalgeier erreichten 0,15 % ihres einstigen Bestandes, Indiengeier 2,29 %.
Das Verbot flankierten folgende Maßnahmen: Futterplätze mit schadstofffreier Nahrung und Schutzzonen, Schutz der Brut- und Rastplätze; Ausbau von Zuchtzentren.
Liegt es nur am Diclofenac?
Baumgart sieht nicht Diclofenac allein als Ursache des Massensterbens. Spezifische Faktoren spielten in Indien eine Rolle dafür, dass die Geierbestände so dramatisch zusammen brachen:
Erstens ließ die indische Regierung das Mittel unkontrolliert verkaufen, auch zur oralen Einnahme.
Zweitens war es auf einem frei zugänglichen Arzneimittelmarkt einfach und günstig zu erwerben.
Drittens verabreichten Kleinbauern es exzessiv an Nutztiere mit dem Trinkwasser.
Viertens erwähnt Baumgart die unkontrollierte Entsorgung von Millionen Viehkadavern durch Geier.
Laut Baumgart ist die Dimension und Dynamik der durch Diclofenac ausgelösten ökologischen Katastrophe nur vor dem Hintergrund Indiens zu verstehen: Die millionenfache Entsorgung von Tierkadavern durch Geier wäre zum Beispiel in der EU nicht möglich.
Können sich die Geierbestände erholen?
Geier waren einst auch in Europa weit verbreitet. Heute gibt es Gänse- und Mönchsgeier nur noch in wenigen Gebieten, vor allem in Gebirgen Spaniens und Frankreichs, auf dem Balkan und den Mittelmeerländern.
Der Grund ihres Niedergangs in Europa war erstens massive Verfolgung durch den Menschen, zweitens aber die industrielle Landwirtschaft und die fortgeschrittene Seuchenhygiene: Es gab schlicht zu wenig Tierkadaver in der Landschaft, um die Vögel zu ernähren.
Sie hielten sich entweder in Gebieten mit reichem Wildbestand, wo Kadaver nicht entsorgt wurden und / oder in Regionen mit extensiver Nutztierhaltung. Das gilt vor allem für die freie Weide von Ziegen und Schafen.
Laut Baumgart wäre das Fressen der Rinderkadaver durch die Geier auch ohne Diclofenac keine Perspektive für die Zukunft gewesen. Jetzt müssten dringend Lösungen gefunden werden, um dem Problem Herr zu werden, zum Beispiel durch die Gründung von Abdeckereien in den indischen Städten.
Tierkörperbeseitigung unumgänglich
Auch wenn sich die Geierbestände erholen, werden sie bei den notwendigen Maßnahmen zur Kadaverbeseitigung nie wieder ihre alten Bestände erreichen können. Realistisch wären auf Dauer Populationen in der Höhe von 10 % bis 15 % der ursprünglichen Menge.
Da Geier aber nicht von Rinderkadavern abhängig sind, können sich die Bestände auf höherem Niveau einpendeln, wobei sich die Verbreitung vorerst auf die Vorberge des Himalayas, Westindien und Tigerreservate beschränken dürfte. Dabei unterstützen die Inder die Schutzmaßnahmen, da sie den Geiern positiv gegenüber stehen.
Die häufigsten Geier könnten in Zukunft die Indiengeier und Dünnschnabelgeier werden, während sich der Bengalgeier vermutlich auf eng begrenzte Gebiete beschränken wird. Schmutzgeier werden als Müllverwerter nach wie vor in den ländlichen Regionen verbreitet sein.
Geiersterben in Asien und Afrika
Baumgart erörtert zwar ausführlich, warum die Verhältnisse in Indien eine besondere Dynamik des Geiersterbens auslösten, doch das Problem ist nicht auf den Subkontinent beschränkt. In Afrika und Asien ging die Zahl der Geier insgesamt auf 5 % zurück – von 23 Geierarten gelten heute 6 als global bedroht.
Auf der Liste der kritischen Arten stehen inzwischen auch die afrikanischen Weißrücken-, Kappen- und Sperbergeier. Selbst in Reservaten wie Masai-Mara in Kenia nahmen die Geierbestände in 30 Jahren um 60 % ab.
In Afrika sind die Gründe allerdings in erster Linie vergiftete Nutztierköder, die Farmer auslegen, um Raubtiere zu dezimieren. Doch auch Diclofenac bedroht die Tiere.
In Kambodscha richten Naturschützer deshalb jetzt „Geier-Restaurants“ an, in denen die Tiere schadstofffreie Kadaver verzehren können.
In Europa könnten die Geierbestände ebenfalls einbrechen. Trotz der indischen Katastrophe wurde Diclofenac in Italien und Spanien erlaubt, um Weidetiere zu behandeln. Gelangen diese behandelten Tiere in die freie Wildbahn, ist ein Geiersterben vorprogrammiert. Heute leben in Spanien und Italien 80 % aller Geier Europas, neben Gänse- und Schmutzgeiern auch die höchst seltenen Mönchsgeier.
Nicht nur Geier sind betroffen
Diclofenac tötet nicht nur Geier, sondern auch Adler. Der Forscher Toby Galligan fand in den Kadavern von zwei Steppenadlern in Indien Rückstände des Wirkstoffs. Zudem wiesen die Vögel die gleichen Verformungen der Niere auf wie die toten Geier.
In Spanien stellt das Mittel demzufolge auch eine Gefahr für den höchst bedrohten Spanischen Kaiseradler dar. (Dr. Utz Anhalt)
Quelle:
Wolfgang Baumgart: Das durch Diclofenac verursachte Geiersterben in Indien. Ein Tierarzneimittel erschüttert einen subkontinentalen Kulturkreis. In: Deutsches Tierärzteblatt 65 / 2017
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