BGH fordert vergleichende Folgenabwägung bei schweren Eingriffen
Alternative Behandlungsmethoden sind rechtlich zulässig und können daher nicht von vornherein als fehlerhaft gelten. Insbesondere bei schweren Eingriffen müssen Ärzte dann aber auch die Schulmedizin im Blick haben und die Folgen mit deren Behandlungsmöglichkeiten abwägen, forderte der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe in einem am Montag, 24. Juli 2017, veröffentlichten Urteil (Az.: VI ZR 203/16).
Im konkreten Fall geht es um eine Behandlung der „ganzheitlichen Zahnmedizin“, die die Auswirkungen von Problemen im Mund auf den gesamten Körper stärker in den Blick nimmt. Bei einer „Herd- und Störfeldtestung“ stellte der Zahnarzt fest, dass aus Entzündungsherden der Zähne Eiweißverfallsgifte in den Körper gelangen – von der rechten Kopfhälfte bis in den Unterleib. Der Knochen des rechten Oberkiefers werde unzureichend mit Nährstoffen versorgt und es komme zu einem „stillen Gewebsuntergang im Knochenmark“.
Als Therapie riet der Zahnarzt, sämtliche Backenzähne im Oberkiefer zu entfernen und den Kieferknochen gründlich auszufräsen. Die Patientin willigte in diese Maßnahmen ein. Die verordnete Prothese holte sie später selbst beim Zahnlabor ab, ohne dass deren Sitz kontrolliert wurde und ohne dass sie eine Einweisung erhielt.
Wegen Schwierigkeiten mit dem Zahnersatz suchte die Patientin einen anderen Zahnarzt auf. Dieser äußerte sich sehr kritisch zu der Behandlung durch den Kollegen.
Mit ihrer Klage verlangt die Patientin Rückzahlung des gezahlten Honorars, die Erstattung von Folgebehandlungskosten sowie ein Schmerzensgeld von mindestens 5.000 Euro.
Landgericht und Oberlandesgericht (OLG) gaben dem weitgehend statt.
Mit seinem jetzt schriftlich veröffentlichten Urteil vom 30. Mai 2017 hob der BGH die Vorentscheidungen auf und verwies den Streit zur erneuten Prüfung an das OLG Zweibrücken zurück. Die Vorinstanzen hätten sich auf einen Gutachter gestützt, der nach eigenem Bekunden nicht mit den Grundlagen der ganzheitlichen Zahnmedizin vertraut ist. Dies sei in solchen Fällen aber notwendig.
Denn die Anwendung nicht allgemein anerkannter Therapieformen sei „rechtlich grundsätzlich erlaubt“, betonten die Karlsruher Richter. Sofern die Patienten über die Tragweite ihrer Entscheidung wissen, könnten sie „jede nicht gegen die guten Sitten verstoßende Behandlungsmethode wählen“. Aus einem alternativen Behandlungsansatz könne daher „nicht von vornherein auf einen Behandlungsfehler geschlossen werden“.
Ärzte müssten bei einer solchen Behandlung allerdings immer die Vor und Nachteile für den konkreten Patienten abwägen. Dabei müssten sie auch die Möglichkeiten der Schulmedizin im Blick haben. „Je schwerer und radikaler der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Patienten ist, desto höher sind die Anforderungen an die medizinische Vertretbarkeit der gewählten Behandlungsmethode“, betonten die Karlsruher Richter.
Hier habe die Behandlung erhebliche Folgen gehabt. Die Patientin könne ohne Prothese nicht mehr richtig kauen, Implantate könnten in den ausgefrästen Kiefer nicht mehr eingesetzt werden.
Zu Recht habe der beklagte Zahnarzt aber die Wahl des Gutachters gerügt. Der beauftragte Gutachter habe selbst zwei Kollegen vorgeschlagen, die auch mit der ganzheitlichen Zahnmedizin vertraut sind. Denn er selbst habe nicht beurteilen können, ob es sich aus deren Ansatz heraus um eine vertretbare Behandlung gehandelt hat. mwo
Autoren- und Quelleninformationen
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.