Clubdroge Ketamin kann Menschen mit Depressionen helfen
In den letzten Jahren wurden kaum noch neue Medikamente zur Behandlung von psychischen Erkrankungen entwickelt. Offenbar können aber auch Mittel helfen, die ursprünglich zu einem ganz anderen Zweck auf den Markt gebracht wurden. So eignet sich etwa das Narkosemittel Ketamin als Hilfe für manche Patienten mit einer Depression.
Immer mehr Menschen leiden an psychischen Erkrankungen
Einem Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge ist die Anzahl der Menschen mit Depressionen weltweit deutlich gestiegen ist. Auch in Deutschland und der EU leiden immer mehr Menschen an der psychischen Krankheit. Laut der Deutschen Depressionshilfe erkranken hierzulande jedes Jahr über fünf Millionen Menschen an einer behandlungsbedürftigen, unipolaren Depression. Neue Medikamente gab es in den vergangenen Jahren nicht mehr. Die jüngsten Durchbrüche, sogenannte Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) wie Prozac, liegen bereits über 30 Jahre zurück. Manchen Depressiven kann jedoch ein Mittel helfen, das auch als Partydroge eingesetzt wird.
Bei früher Diagnose gut behandelbar
In vielen Fälle sind Depressionen gut therapierbar solange sie frühzeitig erkannt werden. Allerdings helfen Antidepressiva nicht bei allen Patienten.
Experten zufolge spricht fast ein Drittel der Betroffenen auf die verschiedenen Medikamente nicht an.
Hier kann der Einsatz eines Mittels sinnvoll sein, das von manchen Menschen auch als Clubdroge gebraucht wird: Ketamin.
In wissenschaftlichen Untersuchungen hat sich gezeigt, dass Ketamin bei Therapien von schweren Depressionen hilft.
So stellten etwa Wissenschaftler der University of New South Wales (Australien) fest, dass das Mittel gerade bei älteren Patienten effektiv wirkt.
Narkosemittel gegen Depressionen
Ketamin ist ein Arzneistoff, der insbesondere als Narkosemittel und zur Behandlung von Schmerzen eingesetzt wird. Ursprünglich diente das Mittel als Pferdemedikament.
Doch schon länger ist bekannt, dass dieser Stoff auch ein wirksames Antidepressivum sein kann.
Der Psychiater Malek Bajbouj von der Berliner Charité hat Ketamin, das auch als Partydroge verwendet wird, bereits gegen Depressionen und Angst eingesetzt und gute Erfahrungen damit gemacht.
Laut Siegfried Kasper, Leiter der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der MedUni Wien holt das Narkotikum Menschen sehr schnell aus ihrer Depression und verdrängt suizidale Gedanken.
„Ketamin wirkt bereits nach zehn bis 20 Minuten und hellt die Stimmung auf“, so der Experte in einer Mitteilung.
Ketamin befreit schnell von Selbstmordgedanken
Auch Barbara Reiger hilft das Mittel. Wie die Nachrichtenagentur dpa berichtet, bekommt die US-Amerikanerin aus San Diego alle sechs Wochen stark verdünntes Ketamin injiziert. „Ich spürte sofort Erleichterung“, so die Depressive über ihren ersten „Trip“.
In den USA wurden bisher etwa 3.000 Menschen damit behandelt. Auch hierzulande wird die Therapie langsam bekannter.
Schnelle Hilfe tut not, auch wegen der Suizid-Gefahr.
„Bei schweren, sogenannten psychotischen Depressionen können riesenhaft vergrößerte Zukunftsängste und Schuldgefühle verbunden mit hoher innerer Anspannung, Erschöpfungsgefühlen, Schlaflosigkeit und völliger Hoffnungslosigkeit auftreten, sodass sich finstere Gedanken bis hin zum Suizid einstellen“, erläuterte Prof. Dr. Ulrich Hegerl, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe in einer älteren Mitteilung.
Dass Ketamin manche Patienten binnen einer Stunde von ihren Selbstmordgedanken befreit, überzeugt Mediziner.
„Es ist ein Paradigmenwechsel, weil wir jetzt schnell antidepressive Wirkungen erzielen können“, so Carlos Zarate vom US-amerikanischen National-Institut für mentale Gesundheit (NIMH) laut dpa.
Wirksamkeit in wissenschaftlichen Studien belegt
Experten zufolge besteht der Wirkmechanismus von Ketamin im Ausgleich einer Störung der Glutamat-GABA Balance im Gehirn: Glutamat ist besonders im Gehirn von zentraler Bedeutung und für die Bewegungssteuerung, Sinneswahrnehmung und auch das Gedächtnis wichtig.
GABA setzt die Erregbarkeit der Nervenzellen herab und ist somit quasi der Gegenspieler von Glutamat. Bei Menschen mit Depressionen oder Angstzuständen ist diese Balance gestört, die durch Ketamin repariert werden kann.
Wie das Mittel wirkt, wird auch in Artikeln der NIH (National Institutes of Health) und im Fachmagazin „Nature“ beschrieben.
Als problematisch wird angesehen, dass es durch das Mittel auch zu Angstzuständen, Schlaflosigkeit und Flashbacks kommen kann. Zudem ist unklar, ob es Langzeitfolgen hat oder vielleicht sogar abhängig macht.
Zwar wurde die Wirksamkeit von Ketamin bei Schwerstdepressiven, denen sogenannte Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) nicht helfen, in wissenschaftlichen Untersuchungen belegt, doch bislang fehlt eine große Doppel-Blind-Studie.
Daher hat die US-Zulassungsbehörde FDA das Mittel noch nicht zur Behandlung von Depressionen zugelassen. Derzeit wird damit nur der sogenannte Off-Label-Einsatz praktiziert.
Erkenntnisse können Pfad zu neuen Antidepressiva öffnen
Auch die Amerikanische Psychiatrische Gesellschaft sieht Ketamin noch nicht als geeignetes Mittel für behandlungs-resistente Depressionen an.
„Ich glaube dennoch, es ist die spannendste Behandlung für Störungen des Gemütszustandes der vergangenen 50 Jahre“, so der Ketamin-Forscher Gerard Sanacora (Yale School of Medicine) in einer Mitteilung.
Aktuell arbeiten mehrere Pharma-Unternehmen an Ketamin-ähnlichen Mitteln, die zum Beispiel als Nasenspray verabreicht werden können.
Hier sieht Prof. Dr. med. Malek Bajbouj von der Berliner Charité Potenzial. In dem Krankenhaus läuft mit bislang 100 Patienten das größte Ketamin-Therapieangebot bundesweit.
Den Angaben zufolge liege die Erfolgsquote dabei zwar nur bei 35 bis 50 Prozent, doch der schnelle Eintritt der Wirkung sei ein großer Vorteil von Ketamin.
„Noch wichtiger sind aber Erkenntnisse über den besonderen Wirkmechanismus. Sie können den Pfad zu neuen Antidepressiva öffnen“, so Bajbouj laut dpa. (ad)
Autoren- und Quelleninformationen
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Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.