Jymmin: Wie wir durch eine neue Fitnessmethode weniger Schmerz spüren
Gesundheitsexperten zufolge leiden über 20 Millionen Menschen in Deutschland an chronischen Schmerzen. Mit Medikamenten allein lassen sich die Beschwerden in vielen Fällen nicht unter Kontrolle bekommen. Manchen könnte womöglich eine neu entwickelte Fitnessmethode helfen, die Sport und Musik vereint.
Millionen Deutsche leiden an chronischen Schmerzen
Forscher berichteten vor kurzem über eine sechsköpfige Familie aus Italien, die aufgrund einer seltenen Genmutation nie Schmerzen bemerkt. So mancher Bundesbürger mag sie womöglich darum beneiden, denn chronische Schmerzen sind in Deutschland längst zu einer Volkskrankheit geworden. „Etwa 23 Mio. Deutsche (28 %) berichten über chronische Schmerzen, 95 % davon über chronische Schmerzen, die nicht durch Tumorerkrankungen bedingt sind“, schrieb die Deutsche Schmerzgesellschaft letztes Jahr in einer Mitteilung. Wissenschaftler berichten nun über eine neu entwickelte Fitnessmethode, die Hoffnung für Schmerzpatienten aufkommen lässt: das Jymmin, bei dem sich mit klassischen Fitnessgeräten während des Sporttrainings Musik produzieren lässt.
Mix aus Sport und musikalischem Improvisieren
Meist entsteht er akut durch eine Krankheit, Verletzung oder starke körperliche Belastung: Schmerz ist unangenehm. Als Warnsignal ist er zwar einerseits überlebenswichtig.
Andererseits kann er auch Erfolge in Rehakliniken verlangsamen oder in chronischer Form zu einer eigenständigen Erkrankung werden. Wie stark wir ihn empfinden, hängt auch von unserer individuellen Schmerzschwelle ab.
Ob Tabletten oder Wärmetherapie, es gibt verschiedene Wege, um ihm zu begegnen.
Forscher des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI CBS) in Leipzig haben nun entdeckt, dass eine von ihnen entwickelte Fitnessmethode auch unser Schmerzempfinden beeinflusst:
Jymmin, ein Mix aus Sport (Gym) und freiem musikalischen Improvisieren (Jammin), macht uns demnach unempfindlicher gegenüber Schmerzen.
Neue Fitnessmethode verschiebt die Schmerzschwelle nach oben
Wie das Institut in einer Mitteilung erklärt, werden beim Jymmin Fitnessgeräte so modifiziert, dass die unterschiedlich starken Bewegungen an Bauchmuskeltrainer, Zugstange oder Stepper eine große Variation an Töne hervorbringen.
Eine am MPI CBS entwickelte Kompositionssoftware und ein dazugehöriges Sensorsystem verarbeiten diese so, dass daraus zeitgleich eine für jeden Sportler und jede Einheit individuelle Begleitmusik entsteht.
Die Sportler werden damit zu Komponisten, die Geräte zu ihren Instrumenten.
„Wir haben herausgefunden, dass Jymmin die Schmerzschwelle nach oben verschiebt. Bereits nach zehn Minuten Training auf unseren Jymmin-Geräten, konnten die Studienteilnehmer in einem Schmerztest durchschnittlich zehn Prozent, einige gar bis zu 50 Prozent, mehr Schmerz ertragen“, erklärt Thomas Fritz, Leiter der Forschungsgruppe Musikevozierte Hirnplastizität am MPI CBS.
Erhöhte Ausschüttung von schmerzhemmenden Endorphinen
Die Neurowissenschaftler wussten zwar bereits aus früheren Studien, dass sportliche Aktivität generell die Schmerzschwelle steigen lässt. „Beim Jymmin war dieser Effekt jedoch deutlich stärker als nach herkömmlichem Kraftsport“, erläutert Fritz.
Entsprechend konnten die Teilnehmer ihren Unterarm im Durchschnitt fünf Sekunden länger in einem Grad kalten Eiswasser halten als nach einer Trainingseinheit auf herkömmlichen Sportgeräten.
Den Grund dafür sehen die Wissenschaftler vor allem in einer erhöhten Ausschüttung von Endorphinen während des Jymmins. Diese Hormone wirken als eine Art körpereigener Schmerzhemmer.
Je höher ihr Spiegel, desto toleranter sind wir gegenüber Schmerzen. Die Kombination aus körperlicher Verausgabung und Musikmachen scheint dabei besonders effektiv unser Endorphinsystem anzuregen.
Jymmin kann auch Angstzustände verringern
Das Interessante dabei: Wie stark sich das Schmerzempfinden durch diese Methode manipulieren lässt, scheint vor allem vom individuellen Schmerzempfinden abhängig zu sein.
Die Wissenschaftler hatten die 22 Studienteilnehmer mithilfe von Beschreibungen wie „Als ich einen Nagel in die Wand schlagen will, haue ich mir mit dem Hammer auf den Finger“ und anderer schmerzvoller Szenen innerhalb eines standardisierten Fragebogens in Schmerzklassen eingeteilt.
Und es zeigte sich: Die größte Wirkung dieser Trainingsmethode erfuhren die Teilnehmer, die bereits ein weniger ausgeprägtes Schmerzempfinden haben. Die Forscher vermuten, dass bei diesen Teilnehmern generell Endorphine effektiver ausgeschüttet werden als bei schmerzsensibleren.
„Aus diesen Effekten ergeben sich für das Jymmin zahlreiche Einsatzmöglichkeiten“, so Fritz. Zum einen für die Menschen, die an akuten oder chronischen Schmerzen leiden.
Gerade in Rehakliniken könnten die Geräte wertvolle Dienste leisten, indem sie die Schmerzen der Patienten verringern und ein effektiveres Therapie-Training ermöglichten. „Sie erreichen im Training schlichtweg später ihre Schmerzschwelle.“
Eine aktuelle Studie an chronischen Schmerzpatienten am MPI CBS deute zudem bereits an, dass Jymmin auch Angstzustände verringern und damit einer der wesentlichen Ursache chronischer Schmerzen entgegenwirken kann.
Persönliche Stimmung und Motivation steigt
Zum anderen wären da die Hochleistungssportler, die besonders hohe körperliche Leistungen erbringen wollen und dabei wortwörtlich an ihre Schmerzgrenzen gehen. Und darüber hinaus.
„Erste Untersuchungen mit Leistungsschwimmern an einem olympischen Trainingszentrum in Südkorea zeigten, dass die Sportler, die sich unmittelbar vor dem Wettbewerb mit unseren Jymmin-Geräten aufwärmten, schneller schwammen als jene mit herkömmlichen Aufwärmmethoden.“
Tatsächlich schwammen in einem Pilottest fünf der sechs Athleten einige Zehntel Sekunden schneller als in vorherigen Durchläufen.
Dass Jymmin generell zahlreiche positive Effekte auf unseren Körper und unser seelisches Wohlempfinden haben, hatten bereits frühere Studien am MPI CBS entdeckt.
Sie hatten gezeigt, dass sich dadurch nicht nur der Arbeitsaufwand beim Fitness-Training verringert, sondern auch die persönliche Stimmung und Motivation steigt.
Sogar die Musik selbst empfanden sie während des Sports als schöner und begeisterten sich für Musikstile, die sonst außerhalb ihres persönlichen Musikrepertoires liegen. (ad)
Autoren- und Quelleninformationen
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