Früh eingeschulte Kinder erhalten öfter ADHS-Diagnose
Kinder, die sehr früh eingeschult werden, bekommen einer Studie zufolge häufiger die Diagnose ADHS und entsprechende Medikamente als ältere Klassenkameraden von ihnen. Experten gehen davon aus, dass die Diagnosen in vielen Fällen nicht richtig sind.
Häufige ADHS-Diagnosen bei früh eingeschulten Kindern
Laut einer neuen Studie von Wissenschaftlern vom Versorgungsatlas in Kooperation mit der Ludwig-Maximilians-Universität München bekommen sehr früh eingeschulte Kinder häufiger die DiagnoseAufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und entsprechende Medikamente als ihre älteren Klassenkameraden. Die Untersuchung über die auch „Zappelphilipp-Syndrom“ genannte Entwicklungsstörung wurde auf dem Portal „versorgungsatlas.de“ veröffentlicht. Bereits in den vergangenen Jahren kamen Studien zu ähnlichen Ergebnissen. Eine ADHS-Diagnose trifft vor allem die Jüngsten, lautete etwa der Schluss einer Untersuchung der AOK im vergangenen Jahr. Für die aktuelle Studie wurden nun Abrechnungs- und Arzneiverordnungsdaten von sieben Millionen Kindern und Jugendlichen aus den Jahren 2008 bis 2011 ausgewertet.
Zweifel an der Diagnose
Wie die Nachrichtenagentur dpa berichtet, zeigte sich, dass von den Kindern, die kurz vor dem Stichtag zur Einschulung sechs Jahre alt wurden, 5,3 Prozent im Laufe der nächsten Jahre die Diagnose ADHS erhielten. Bei den rund ein Jahr älteren Kindern in der Untersuchung waren es 4,3 Prozent. Martin Holtmann, Kinder- und Jugendpsychiater von der LWL-Universitätsklinik Hamm bezweifelt, dass die Diagnosen alle stimmen. Gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ) sagte er: „Wahrscheinlich ist, dass die Kinder aufgrund ihrer relativen Unreife im Klassenverband eher negativ auffallen.“
Merkmale sind stark vom Alter abhängig
„Man vergleicht automatisch die Kinder innerhalb einer Klassengemeinschaft“, so Holtmann. Die jüngsten wirkten dabei naturgemäß eher zappelig. Der Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut Manfred Döpfner von der Uni Köln erklärte in der SZ, dass die Merkmale des ADHS wie Konzentrationsunfähigkeit, innere Unruhe und Impulsivität, stark altersabhängig sind: „Ein jüngeres Kind hat oft größere Schwierigkeiten, den Anforderungen an Ausdauer und Konzentration gerecht zu werden.“ Doch von den Lehrern werden weitgehend die gleichen Anforderungen an alle Kinder einer Klasse gestellt.
Ärzte lassen sich beeinflussen
Und Ärzte lassen sich in ihren Diagnosen unter anderem auch von genervten Lehrern oder verzweifelten Eltern anstecken, die Sorge haben, ihr Nachwuchs könnte in der Schule abgehängt werden. „Kinderpsychiater stellen ihre Diagnosen nicht im luftleeren Raum“, so Holtmann. Letztlich hängt es von der Kraft und Bereitschaft der Lehrkräfte ab, ob sie die „Hyperaktiven“ auffangen oder abschreiben. Wie die Münchner Forscher in ihrer Untersuchung auch feststellten, wird die Diagnose ADHS bei früh eingeschulten Kindern besonders oft gestellt, wenn Klassen sehr groß sind oder viele ausländische Kinder dazugehören. Es wird aber angenommen, dass die agilen Jüngsten unter erschwerten Unterrichtsbedingungen einfach besonders negativ auffallen.
Unnötige Medikamenteneinnahme
Wenn fälschlicherweise ADHS diagnostiziert wird, kommt es infolge davon auch zu einer unnötigen Arzneimittelbehandlung. Solche Medikamente können sich unter anderem negativ auf Schlaf und Wachstum auswirken und das Risiko für Herzprobleme erhöhen. Zwar ist einer Studie zufolge hierzulande die Ritalin-Verschreibung bei ADHS zurückgegangen, doch laut einem UN-Drogenbericht wird weltweit immer mehr Missbrauch mit ADHS-Medikamenten betrieben. Demnach nehmen viele gesunde Menschen solche Arzneien, um sich besser konzentrieren zu können und leistungsfähiger zu werden.
Spätere Einschulung kann eine Lösung sein
Liegt aber tatsächlich ADHS vor, sind die Mittel sehr hilfreich. „Bei einem wirklich unter ADHS leidenden Kind kann die Behandlung ein Segen sein, weil ein solches Kind dann nach einer langen Zeit der Ablehnung und des Gefühls, nichts zu taugen, in die soziale Gemeinschaft integriert werden kann“, erklärte der Psychiater Holtmann. „Aber eine nicht indizierte Behandlung bei einem Kind, das nicht krank, sondern einfach nur jung ist, sollte unbedingt vermieden werden.“ Der Psychologe Manfred Döpfner zog aus der Studie noch eine weitere Konsequenz: „Ich rate tendenziell zur späteren Einschulung eines Kindes, vor allem dann, wenn es in manchen Aspekten entwicklungsverzögert ist und es ihm schwerer fällt, still zu sitzen und sich zu konzentrieren.“ Er meinte aber, dass es keine Lösung sei, alle Kinder „noch ein Jahr zu Hause nachreifen zu lassen“. „Besonders die fitten sind im letzten Kindergartenjahr oft unterfordert, sie langweilen sich zu Tode.“ Wichtig sei Experten zufolge eher die „relative Reife“. Letztendlich sollten Kinder gerne zur Schule gehen – egal in welchem Alter auch immer. (ad)
Autoren- und Quelleninformationen
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.