Ist es gut, dass immer mehr Psychopharmaka verschrieben werden?
Seit dem Jahr 2000 nimmt der Gebrauch von Antidepressiva rasant zu. Dies berichtet die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Demnach zeige die aktuelle Statistik, dass vor allem in Ländern wie Island, Australien und Portugal besonders viele Medikamente gegen Depressionen eingenommen werden. Auch in Deutschland werden mittlerweile knapp fünf Millionen Menschen mit Antidepressiva behandelt. Doch die steigenden Zahlen bedeuten nicht automatisch mehr Fälle von Depressionen. Stattdessen sehen Experten die Entwicklung positiv, denn durch eine erhöhte Medikation könne mehr Menschen geholfen werden.
Depression stellt die zweithäufigste psychische Erkrankung dar
Stimmungsschwankungen, innere Leere, Angst, Selbstzweifel – all das sind Anzeichen einer Depression. Diese wird in der Psychiatrie zu den so genannten „affektiven Störungen“ gezählt und stellt neben der Angststörung die zweithäufigste psychische Erkrankung dar. Neben der Psychotherapie werden zur Behandlung in vielen Fällen Antidepressiva eingesetzt. Diese beeinflussen das Gleichgewicht der Hirnbotenstoffe und können dadurch helfen, die Beschwerden zu lindern und Rückfälle vorzubeugen. Neuste Statistiken der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zeigen nun, dass sich die Zahl der Betroffenen in den letzten Jahren drastisch erhöht hat und immer mehr Menschen zu den speziellen Medikamenten greifen.
Isländer konsumieren mit Abstand am meisten Antidepressiva
Wie die Organisation berichtet, habe sich der Konsum von Antidepressiva seit dem Jahr 2000 rasant erhöht und im Durchschnitt in den OECD-Ländern sogar nahezu verdoppelt. Spitzenreiter der 28 dokumentierten Länder war 2013 demnach Island mit 118 Tagesdosen pro 1.000 Einwohnern – vor 13 Jahren hatte der Wert noch bei 71 gelegen. Auch Länder wie Australien mit einem Anstieg von 45 (im Jahr 2000) auf 96 Tagesdosen (2013) oder Portugal (2000: 33 / 2013: 88) zeigen, dass Ärzte offenbar in vielen Teilen der Erde heute sehr viel häufiger als früher zum Rezeptblock greifen. Auch hierzulande sei nach Angaben der OECD der Verbrauch von Antidepressiva stark angestiegen. Dieser liege „zwar mit 53 Tagesdosen für tausend Einwohner noch etwas unter dem Schnitt der Industrieländer (58 Tagesdosen). Im Jahr 2000 kam das Land aber erst auf 21 Tagesdosen“, so die Organisation.
Anzahl der Suizide pro Jahr deutlich gesunken
Die steigende Zahl an diagnostizierten Depressionen und verschriebenen Medikamenten bedeutet jedoch offenbar nicht, dass früher weniger Menschen von der psychischen Störung betroffen waren. Stattdessen würden heute nur mehr Menschen diese als eine ernsthafte Erkrankung anerkennen und dementsprechend schneller einen Arzt aufsuchen, erklärt Ulrich Hegerl, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, gegenüber dem „Focus“. Demnach sei der gestiegene Einsatz von Antidepressiva eine „erfreuliche Entwicklung“, denn zugleich sei die Suizidrate von rund 18.000 Menschen jährlich auf 10.000 gesunken.
Menschen haben Angst vor Persönlichkeitsveränderung und Abhängigkeit
Die hohe Anzahl Tagesdosen in Island sei dementsprechend kein Beleg dafür, dass dort die unglücklichsten Menschen leben. Ebenso müssen die geringen Mengen in Ländern wie Chile (18 Tagesdosen pro 1.000 Einwohner), Korea (20) oder Estland (21) nicht bedeuten, dass hier die Zufriedenheit am höchsten ist. Vielmehr richte sich die Höhe der Einnahme unter anderem nach der gesellschaftlichen Akzeptanz der Krankheit und den diagnostischen Fähigkeiten der Ärzte, so der Experte weiter.
„Es gibt Hinweise, dass in mehreren Ländern in denen der Verbrauch hoch ist, wie Australien und Großbritannien, eine Übermedikation besteht. Zugleich aber muss der Verbrauch in anderen Ländern, wie Korea und Estland erhöht werden, um die unerfüllten Bedürfnisse der Menschen befriedigen zu können, die unter Depressionen leiden“, so die OECD. Dass Deutschland derzeit noch unter dem Schnitt der Industrieländer liegt, sei laut Hegerl auf die vorherrschende Skepsis gegenüber Psychopharmaka zurückzuführen. Denn laut einer aktuellen Studie würden 80 Prozent der Deutschen davon ausgehen, dass diese eine Persönlichkeitsveränderung bewirken und zur Abhängigkeit führen. (nr)
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