Genveränderungen bei Autismus auch für Verdauungsprobleme verantwortlich
Autismus ist eine komplexe neurologische Entwicklungsstörung, die in vielfältiger Ausprägung auftreten kann. Schon länger bekannt ist, dass Betroffene oft auch mit Verdauungsproblemen zu kämpfen haben. In einer neuen Studie hat sich nun gezeigt, dass Genveränderungen bei Autismus auch für Störungen des Magen-Darm-Traktes verantwortlich sind.
Es liegen immer noch keine Zahlen über die Häufigkeit von Autismus in Deutschland vor. Und auch die Entstehungsursachen autistischer Störungen konnten trotz umfangreicher Forschungsergebnisse noch nicht eindeutig geklärt werden. Bekannt ist aber, dass autistische Personen häufig auch Störungen im Magen-Darm-Trakt aufweisen. Deutsche Humangenetikerinnen und Humangenetiker haben jetzt entdeckt, dass eine bestimmte Form des Autismus sowie gleichzeitig auftretende Verdauungsprobleme und eine Erkrankung der Speiseröhre eine gemeinsame genetische Ursache haben.
Beeinträchtigung der Darmtätigkeit
Laut einer Mitteilung des Universitätsklinikums Heidelberg haben Forschende aus Heidelberg, Würzburg und Ulm erstmals an Mäusen gezeigt, dass die Entwicklungsstörung und die bisher wenig beachteten Verdauungsprobleme der Patienten in direktem Zusammenhang stehen können.
Der Nachweis gelang ihnen bei dem Gen Foxp1, das nicht nur im Gehirn, sondern auch im Verdauungstrakt aktiv ist. Angeborene Defekte an dieser Stelle des Erbguts äußern sich deshalb sowohl im Auftreten einer sogenannten Autismus-Spektrum-Störung unter anderem mit sozialen Defiziten, stereotypem Verhalten und verminderten kognitiven Fähigkeiten, als auch – bei vielen der Betroffenen – in einer Beeinträchtigung der Darmtätigkeit sowie in einer Funktionsstörung der Speiseröhre. Ihre Ergebnisse wurden im Fachmagazin „Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America“ (PNAS) veröffentlicht.
Hoffnung auf bessere Behandlung
„Falls sich dieses Forschungsergebnis auf den Menschen übertragen lässt, könnte dies unmittelbare Auswirkungen auf die Beratung von Patienten und Angehörigen haben“, sagte Seniorautorin Professor Dr. Gudrun Rappold, Direktorin der Abteilung Molekulare Humangenetik, Institut für Humangenetik am Universitätsklinikum Heidelberg: „Der eingeschränkten Speiseröhren- und Darmfunktionalität könnte man beispielsweise mit einer angepassten Ernährung sowie medikamentösen Behandlung begegnen. Vor allem ist jetzt klar, dass die Magen-Darm-Problematik nicht nur – wie bisher häufig angenommen – von den Medikamenten, die Betroffene einnehmen müssen, oder ihrem abweichenden Essverhalten hervorgerufen wird.“
Verdauungsprobleme bei Menschen mit Autismus häufiger
Wie internationale Studie der letzten Jahre belegen, treten Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes oder Verdauungsprobleme bei Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung überdurchschnittlich häufig auf. Allerdings werden diese Beschwerden bislang nicht systematisch erfasst. Zudem können sich manche Betroffene aufgrund von eingeschränkten kommunikativen und intellektuellen Fähigkeiten nur schwer mitteilen, wenn beispielsweise Schlucken oder Verdauung Beschwerden verursachen.
Beim sogenannten FOXP1-Syndrom, das zu den häufigeren Autismus-Erkrankungen zählt, werden bei über der Hälfte der Erkrankten auch Magen-Darm-Probleme beschrieben. Die Zusammenhänge untersuchten die Forschungsteams um Gudrun Rappold am Heidelberger Institut für Humangenetik und Prof. Dr. Andreas Friebe, Physiologisches Institut der Universität Würzburg nun erstmals systematisch an Mäusen mit dem gleichen Gendefekt, die ein dem Menschen entsprechendes Krankheitsbild entwickeln.
Ringmuskel am Mageneingang öffnet nicht richtig
Die Tiere zeigten ein abweichendes Fressverhalten und nahmen weniger Futter und Wasser auf als Mäuse ohne diese genetische Veränderung. Der Dickdarm sowie die Speiseröhre zeigten eine verminderte Dicke der Muskelschicht und der Ringmuskel am Mageneingang wies eine gestörte Funktion auf, die dazu führt, dass er beim Schluckvorgang nicht richtig öffnet (Achalasie). Weil die Nahrungspassage somit erschwert ist, kann dies auf lange Sicht zu einer starken Schädigung und Aussackung der Speiseröhre führen. Zudem war die Darmpassage signifikant verlangsamt.
„Die bei dem Mausmodell nachgewiesene Achalasie und die Veränderung der Darmperistaltik ist höchstwahrscheinlich der Grund für die bei Patienten mit FOXP1-Syndrom häufig vorkommenden Schluckbeschwerden und Verstopfung“, so der Erstautor der Studie, Dr. Henning Fröhlich. Wie es in der Mitteilung heißt, enthält das Gen Foxp1 den Bauplan eines Proteins, das wiederum die Aktivität zahlreicher anderer Gene steuert. Einige davon, die bereits im Gehirn identifiziert wurden, werden auch in der Speiseröhre durch Foxp1 reguliert, wie die Forschenden herausfanden.
„Tatsächlich ist die überwiegende Mehrheit der Gene, die unmittelbar mit Autismus in Verbindung stehen, sowohl im Gehirn als auch im Magen-Darm-Trakt aktiv. Es ist daher anzunehmen, dass Defekte in diesen Genen sowohl die Funktion des Gehirns als auch des Darms beeinträchtigen. Das gilt es noch zu klären“, erläuterte Prof. Rappold. „Das Verständnis der Rolle dieser Gene in der Entstehung von Darmfunktionsstörungen bei Autismus kann uns langfristig auch helfen, genetische Ursachen von häufigen funktionellen Magen-Darmerkrankungen, bei denen die Kommunikation zwischen Bauch und Kopfhirn gestört ist, aufzuklären“, ergänzte Prof. Dr. Beate Niesler, Leiterin der Arbeitsgruppe „Genetik neurogastroenterologischer Störungen“ am Institut für Humangenetik. (ad)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Universitätsklinikum Heidelberg: Genveränderungen bei Autismus auch für Störungen des Magen-Darm-Traktes verantwortlich, (Abruf: 09.11.2019), Universitätsklinikum Heidelberg
- Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America (PNAS): Gastrointestinal dysfunction in autism displayed by altered motility and achalasia in Foxp1+/− mice, (Abruf: 09.11.2019), PNAS
Wichtiger Hinweis:
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