Erkrankungen durch Übergewicht sollen neu klassifiziert werden
Starkes Übergewicht, auch als Fettleibigkeit oder Adipositas bezeichnet, ist eine Zustand, der das Risiko für mehr als 60 Folgeerkrankungen erhöht. Dennoch sind sich Medizinerinnen und Mediziner weltweit darüber uneinig, ob starkes Übergewicht als eigenständige Krankheit zählen sollte. Ein Team aus Gesundheitsexperten schlägt nun ein neues System zur Klassifizierung von Adipositas-Erkrankungen vor.
Forschende der Obesity Society, der weltweit führenden Fachgesellschaft zur Erforschung, Behandlung und Prävention von Adipositas, schlagen ein neues Klassifizierungssystem für Übergewicht vor, um es als Krankheit besser einordnen zu können. Dabei sollen die pathologische Physiologie, der Body-Mass-Index (BMI) sowie das Vorhandensein und die Schwere von Komplikationen eine Rolle spielen. Das System wurde kürzlich in dem Fachjournal „Obesity“ vorgestellt.
Übergewicht soll genauer klassifiziert werden
Laut den Forschenden soll das neue System eine umfassende Grundlage für die klinische Intervention sowie individualisierte Behandlungsziele und einen personalisierten medizinischen Ansatz ermöglichen. So soll genauer festgelegt werden, was überhaupt behandelt wird und warum.
Neue Impulse geben
„Die Kodierung wird hoffentlich Impulse für einen besseren Zugang der Patientinnen und Patienten zu evidenzbasierten Behandlungen geben“, erläutert Dr. med. W. Timothy Garvey. Er ist Professor im Fachbereich Ernährungswissenschaften und Direktor des Diabetes-Forschungszentrums der Universität von Alabama in Birmingham.
Derzeitige Diagnosen sind schwach und ungenau
Die Forschenden kritisieren, dass die Diagnose von Fettleibigkeit derzeit nur auf dem BMI basiert. Dieser liefere aber keine Hinweis auf die möglichen und bereits eingetretenen Auswirkungen auf die Gesundheit der betroffenen Person. Auch der derzeit angewendete ICD-Code gebe nur die Möglichkeit, eine „Adipositas aufgrund von übermäßigen Kalorien“ zu diagnostizieren. Dies ist nach Ansicht der Obesity Society medizinisch nicht sinnvoll und spiegele zudem nicht die Pathogenese der Adipositas wider.
Unzulänglichkeiten fördern falsche Ansichten
„Diese Unzulänglichkeiten tragen dazu bei, dass Betroffene keinen Zugang zu evidenzbasierten Therapien haben“, betont Garvey. Zudem fördere dies eine geringe öffentliche Akzeptanz der Adipositas als chronische Krankheit. Sowohl die American Association of Clinical Endocrinologists (AACE) als auch die European Association for the Study of Obesity (EASO) unterstützen den Vorstoß der Obesity Society.
Laut Fachgesellschaften wird es einen Wandel geben
„Es wird weltweit zunehmend anerkannt, dass der BMI und andere einfache Metriken der Adipositas die Komplexität der Krankheit oder die Umstände der Betroffenen nicht genau widerspiegeln“, erklärt der Ernährungswissenschaftler. Es sei an der Zeit, dass die Adipositas in die Ära der Präzisionsmedizin eintritt, fügt Erstautorin Gema Frühbeck hinzu, und zwar „mit neuartigen Klassifikationssystemen, die auf funktional festgelegten Endpunkten basieren“.
Mehr Präzision und Nuancierung gefordert
„Es ist von entscheidender Bedeutung, die Intensität der Therapie an den Schweregrad und an die Pathophysiologie der Krankheit anzupassen“, unterstreicht Karl Nadolsky aus dem Forschungsteam. Als neuen Überbegriff für Erkrankungen, die auf starkem Übergewicht basieren, schlagen die Forschenden „Adipositas-basierte chronische Erkrankung (ABCD)“ vor. Die damit verbundene ICD-Kodierungsstruktur unterstütze die klinischen Bemühungen, individuelle Diagnosen mit mehr Präzision und Nuancierung vorzunehmen.
Adipositas – Ein Bild ohne Rahmen
„Das Rahmenwerk bietet eine gut organisierte Möglichkeit, Praktikern und Kostenträgern dabei zu helfen, Adipositas über einen fehlerhaften Rahmen hinaus zu konzeptualisieren“, schildert Professor Dr. Jamy Ard. Dieser fortschrittlichere Ansatz werde aber ein erhebliches Maß an Aufklärung und Öffentlichkeitsarbeit erfordern, um das Verhalten von Medizinern und Kostenträgern zu ändern. Weitere Informationen zum Krankheitsbild finden Sie in dem Artikel: Adipositas – Behandlung und Ursachen.(vb)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- W. Timothy Garvey Jeffrey I. Mechanick: Proposal for a Scientifically Correct and Medically Actionable Disease Classification System (ICD) for Obesity; in: Obesity, 2020, onlinelibrary.wiley.com
- The Obesity Society: Researchers propose new disease classification system for obesity (veröffentlicht: 24.02.2020), eurekalert.org
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.