Heinsberg-Studie: Rund 20 Prozent der Corona-Infizierten zeigen keine Symptome
Nach offiziellen Angaben haben sich bislang über 160.000 Menschen in Deutschland mit dem neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 angesteckt. Doch einer Studie zufolge könnte die Zahl der Infizierten bei schätzungsweise fast zwei Millionen liegen. Zudem zeigt die wissenschaftliche Untersuchung, dass etwa 20 Prozent derjenigen, die sich angesteckt haben, keine Symptome haben.
Der Kreis Heinsberg im Regierungsbezirk Köln in Nordrhein-Westfalen gilt als Brennpunkt für das Coronavirus. Nach einer Karnevalssitzung Mitte Februar kam es dort zu einer in Deutschland frühen und massenhaften Ausbreitung des Erregers. Im Rahmen der sogenannten Heinsberg-Studie hatte ein Forschungsteam unter anderem die Sterblichkeitsrate der Infektion bestimmt. Diese ist deutlich geringer als angenommen, wie schon erste Zwischenergebnisse zeigten. Nun wurden die Studienergebnisse der Öffentlichkeit vorgestellt.
Wichtige Erkenntnisse für das ganze Land
„Im Kreis Heinsberg gab es früher als an allen anderen Orten in Deutschland eine Vielzahl von Menschen, die mit dem Corona-Virus infiziert waren. Der Kreis Heinsberg ist damit die Erstregion – von hier aus lassen sich wichtige Erkenntnisse für ganz Deutschland ableiten“, erklärte der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet in einer Mitteilung zu den ersten Zwischenergebnissen der sogenannten Heinsberg-Studie.
Nun sind die Ergebnisse der Studie vorab veröffentlicht worden und werden jetzt der Wissenschaft und der Öffentlichkeit vorgestellt. Eine Publikation in einem Fachjournal mit Peer-Review-Verfahren wird folgen.
Laut einer Mitteilung hatte ein Forschungsteam um Prof. Dr. Hendrik Streeck und Prof. Dr. Gunther Hartmann von der Universität Bonn im Rahmen der Studie in der Ortschaft Gangelt im Kreis Heinsberg eine große Zahl von Einwohnerinnen und Einwohner befragt, Proben genommen und analysiert.
Anteil der Todesfälle unter den Infizierten
Im Zentrum der Studie steht die Sterblichkeitsrate der Infektion (die sogenannte Infektionssterblichkeit, englisch: infection fatality rate, IFR), die den Anteil der Todesfälle unter den Infizierten angibt.
Diese muss von der Fallsterblichkeit unterschieden werden (englisch: case fatality rate, CFR). Wie es in der Mitteilung heißt, ist die IFR aus verschiedenen Gründen der verlässlichere Parameter, und dessen Bestimmung wird international für SARS-CoV-2 gefordert.
„Mit unseren Daten kann nun zum ersten Mal sehr gut geschätzt werden, wie viele Menschen nach einem Ausbruchsereignis infiziert wurden“, erklärt Studienleiter Prof. Dr. Hendrik Streeck, Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Bonn.
„In unserer Studie waren das 15 Prozent für die Gemeinde Gangelt. Mit der Gesamtzahl aller Infizierter kann die Infektionssterblichkeit (IFR) bestimmt werden. Sie liegt für SARS-CoV-2 für den Ausbruch in der Gemeinde Gangelt bei 0,37 Prozent“, so der Experte.
Dunkelziffer mehr als zehnmal so hoch wie die Zahl der gemeldeten Fälle
Mit der IFR lässt sich anhand der Zahl der Verstorbenen auch für andere Orte mit anderen Infektionsraten abschätzen, wie viele Personen sich dort insgesamt angesteckt haben. Der Abgleich dieser Zahl mit der Zahl der offiziell gemeldeten Infizierten führt dann zur sogenannten Dunkelziffer.
Den Angaben zufolge ist diese in Gangelt rund 5-fach höher als die offiziell berichtete Zahl der positiv getesteten Personen. Wenn man für eine Hochrechnung etwa die Zahl von fast 6.700 SARS-CoV-2-assoziierten Todesfällen in Deutschland zugrunde legt, so ergäbe sich eine geschätzte Gesamtzahl von rund 1,8 Millionen Infizierten.
Diese Dunkelziffer ist laut der Bonner Uni um den Faktor 10 größer als die Gesamtzahl der offiziell gemeldeten Fälle (162.496 am 03.05.2020, 07:20 Uhr).
„Die Ergebnisse können dazu dienen, Modellrechnungen zum Ausbreitungsverhalten des Virus weiter zu verbessern – bislang ist hierzu die Datengrundlage vergleichsweise unsicher“, erläutert Co-Autor Prof. Dr. Gunther Hartmann, Leiter des Instituts für Klinische Chemie und Klinische Pharmakologie am Universitätsklinikum Bonn.
Laut den Forschenden gibt die Studie auch wichtige Hinweise für weiterführende Forschung zu SARS-CoV-2, etwa zum Infektionsrisiko in Abhängigkeit von Alter, Geschlecht und Vorerkrankungen, zum höheren Schweregrad der Erkrankung unter den besonderen Bedingungen eines massiven Infektionsereignisses wie in Gangelt, oder zum Infektionsrisiko innerhalb von Familien.
Rund jede fünfte Infektion ohne wahrnehmbare Symptome
Die Symptombeschreibung ist ebenfalls ein Aspekt der Studie. Der für diese Infektion auffälligste Symptomkomplex ist der von Professor Streeck zuvor beschriebene Geruchs-und Geschmacksverlust.
Weiterhin zeigten in Gangelt insgesamt 22 Prozent von allen infizierten Personen gar keine Symptome. Es fiel auf, dass Menschen, die an der Karnevalssitzung teilgenommen haben, häufiger Symptome hatten.
„Um herauszufinden, ob hier die körperliche Nähe zu anderen Sitzungsteilnehmern und eine erhöhte Tröpfchenbildung durch lautes Sprechen und Singen zu einem stärkeren Krankheitsverlauf beigetragen haben, planen wir weitere Untersuchungen in Kooperation mit Spezialisten für Hygiene“, erklärt Prof. Hartmann.
„Dass offenbar jede fünfte Infektion ohne wahrnehmbare Krankheitssymptome verläuft, legt nahe, dass man Infizierte, die das Virus ausscheiden und damit andere anstecken können, nicht sicher auf der Basis erkennbarer Krankheitserscheinungen identifizieren kann“, sagt Prof. Martin Exner, Leiter des Instituts für Hygiene und öffentliche Gesundheit und Co-Autor der Studie.
Laut dem Hygiene-Experten bestätige dies die Wichtigkeit der allgemeinen Abstands- und Hygieneregeln in der Corona-Pandemie. „Jeder vermeintlich Gesunde, der uns begegnet, kann unwissentlich das Virus tragen. Das müssen wir uns bewusst machen und uns auch so verhalten“, so Prof. Exner.
Es zeigte sich auch, dass in den untersuchten Mehrpersonen-Haushalten das Risiko für die Ansteckung einer weiteren Person überraschend gering war. „Die Infektionsraten sind bei Kindern, Erwachsenen und Älteren sehr ähnlich und hängen offenbar nicht vom Alter ab“, erläutert Prof. Streeck. Auch zwischen den Geschlechtern gebe es keine signifikanten Unterschiede.
Test erkennt Antikörper
Für die Studie wurden insgesamt 600 zufällig ausgewählte Haushalte in Gangelt angeschrieben und gebeten, teilzunehmen. 919 Studienteilnehmende aus 405 Haushalten wurden vom 30. März bis 6. April sechs Wochen nach dem Ausbruch der Infektion in Gangelt befragt und getestet. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nahmen Rachenabstriche und Blutproben.
Den Angaben zufolge ist in der Akutphase der Infektion in den ersten ein oder zwei Wochen der PCR-Test, der den „genetischen Daumenabdruck“ von SARS-CoV-2 erfasst, sehr zuverlässig. Zwei oder drei Wochen nach der Infektion bildet das Immunsystem sogenannte Antikörper gegen den Erreger, die der ELISA-Test erkennt.
„Durch die Kombination von PCR- und ELISA-Test können wir sowohl akute als auch abgelaufene Infektionen erfassen“, erklärt Hartmann. Vorstudien haben gezeigt, dass der ELISA-Test sich in etwa einem Prozent der durchgeführten Untersuchungen „irrt“ und fälschlicherweise eine durchgemachte Infektion anzeigt.
„Bei einem hohen Prozentsatz an Infizierten wie in Gangelt tritt dieser messtechnische Unsicherheitsfaktor in den Hintergrund“, so Prof. Hartmann.
Bei aktuell geplanten Deutschland-weiten Studien mit einer geschätzten Infektionsrate von etwa ein bis zwei Prozent sei dieser messtechnische Unsicherheitfaktor aber ein Problem.
„Welche Schlüsse aus den Studienergebnissen gezogen werden, hängt von vielen Faktoren ab, die über eine rein wissenschaftliche Betrachtung hinausgehen“, meint Prof. Streeck. „Die Bewertung der Erkenntnisse und die Schlussfolgerungen für konkrete Entscheidungen obliegen der Gesellschaft und der Politik.“ (ad)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn: Ergebnisse der „Heinsberg-Studie“ veröffentlicht, (Abruf: 04.05.2020), Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
- Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn;Hendrik Streeck, Bianca Schulte, Beate M. Kümmerer, Enrico Richter, Tobias Höller, Christine Fuhrmann, Eva Bartok, Ramona Dolscheid, Moritz Berger, Lukas Wessendorf, Monika Eschbach-Bludau, Angelika Kellings, Astrid Schwaiger, Martin Coenen, Per Hoffmann, Birgit Stoffel-Wagner, Markus M. Nöthen, Anna-Maria Eis-Hübinger, MartinExner, Ricarda Maria Schmithausen, Matthias Schmid and Gunther Hartmann: Infection fatality rate of SARS-CoV-2 infection in a German community with a super-spreading event, (Abruf: 04.05.2020), Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
- Landesregierung Nordrhein-Westfalen: Wissenschaftsteam erforscht Infektionsgeschehen des Corona-Virus in Heinsberg, (Abruf: 04.05.2020), Landesregierung Nordrhein-Westfalen
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