Psychologin Prof. Jule Specht: „Manche Senioren wandeln sich so stark wie Teenager“
Die meisten Deutschen unterschätzen laut wissenschaftlicher Studien ihre Lebenserwartung deutlich – und haben oft ein falsches, sehr negatives Bild vom Alter. Wissenschaftler, wie Prof. Jule Specht sind der Meinung, dass sich die Persönlichkeit im Alter noch stark ändern kann.
Die Initiative „7 Jahre länger“ hat nachgefragt. Prof. Dr. Jule Specht, 29 Jahre, ist Juniorprofessorin an der Freien Universität Berlin im Fachgebiet Psychologie. Sie forscht zur Persönlichkeitsentwicklung im Lebenslauf – insbesondere bei Menschen im hohen Alter – und bloggt auf jule-schreibt.de darüber. Zum Jahresbeginn wurde sie mit dem Berliner Wissenschaftspreis 2014 für Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler ausgezeichnet.
Frau Prof. Specht, die landläufige Meinung ist: In der Jugend entwickelt sich die Persönlichkeit des Menschen stark, aber spätestens mit 60 bleibt man, wie man ist. Stimmt das?
Wir gingen lange davon aus, dass sich die Persönlichkeit im Laufe des Lebens immer weiter stabilisiert. Deshalb haben sich Studien zur Persönlichkeitsentwicklung auch auf das junge Erwachsenenalter konzentriert – eine Zeit, in der bekanntermaßen viele Veränderungen festzustellen sind. Unsere Studien haben nun aber gezeigt: Der Mensch verändert sich ab einem Alter von 60, 70 Jahren ebenso stark wie im jungen Erwachsenenalter.
Heißt das also: Auch jenseits der 70 sind noch 180-Grad-Wendungen der Persönlichkeit möglich – vom Goldfischzüchter zum Motorradfahrer?
Das ist natürlich ein extremes Beispiel, aber es stimmt: Manche Senioren wandeln sich noch einmal so stark wie Teenager. Alles ist möglich, auch im hohen Alter. Unsere Untersuchungen haben ergeben, dass sich bis zu einem Viertel der Befragten noch einmal maßgeblich nach dem 70. Geburtstag verändert – beispielsweise vom gesellschaftlich angepassten Menschen zum Rebell. Oder eben umgekehrt.
Was sind typische Veränderungen der Persönlichkeit im Alter?
Die Veränderungen sind in der Regel eher klein, aber durchaus systematisch: Beispielsweise werden Männer nach dem Tod ihrer Partnerin tendenziell gewissenhafter. Bei Frauen ist es umgekehrt. Wir vermuten, das hängt mit der klassischen Rollenaufteilung zusammen. Ein weiteres Beispiel: Menschen verhalten sich im Alter eher verträglich gegenüber anderen.
Das klingt nach Altersmilde. Aber was ist mit dem Klischee vom grummeligen Alten?
Das entspricht nicht dem Durchschnitt: Wenn man eine Gruppe junger Menschen und eine Gruppe älterer Menschen miteinander vergleicht, wird man sogar feststellen, dass ältere Leute im Allgemeinen nachsichtiger und hilfsbereiter sind als junge Menschen um die 30.
Das Ausscheiden aus dem Berufsleben ist für viele Menschen erst einmal ein Einschnitt. Hat dieser Auswirkungen auf die Veränderung der Persönlichkeit im Alter?
Das Ausscheiden aus dem Berufsleben bringt tatsächlich verschiedene systematische Veränderungen mit sich. Die Menschen werden zum Beispiel weniger gewissenhaft, eine Beobachtung, die passenderweise auch „La dolce vita“-Effekt genannt wird. Allein der Eintritt in den Ruhestand kann die vielfältigen Veränderungen im hohen Alter jedoch nicht erklären.
Warum verändert sich die Persönlichkeit von Senioren dann?
Es gibt zahlreiche mögliche Ursachen: weitere einschneidende Lebensereignisse zum Beispiel. Möglicherweise spielt auch aktive Veränderung im Alter eine besonders große Rolle: Je näher der zu erwartende Tod rückt, desto mehr hinterfragen Menschen, wer sie sein möchten.
Kann man seine Persönlichkeit im Alter auch willentlich beeinflussen?
Das wird derzeit untersucht. Aktuell gehen wir davon aus, dass zumindest kurzfristige Veränderungen möglich sind. Man kann zum Beispiel seine Lebensweise ändern, indem man ins Ausland zieht oder sich anderen neuen Herausforderungen stellt. Und ob jemand eine neue Sprache lernt, oder es sich einfach zu Hause auf der Couch bequem macht – das kann selbstverständlich unterschiedliche Veränderungen anstoßen.
Haben Sie Tipps, wie man die neue Lebensphase nutzen kann, um sich persönlich weiterzuentwickeln?
Menschen sollten sich in der Rente aktiv ein soziales Netz, das sie durch den Beruf vorher meist automatisch hatten, aufbauen. Auch ist es gut, sich kognitiven Herausforderungen zu stellen. Das kann heißen, sich mit Rätseln zu beschäftigen, politische Debatten zu verfolgen oder vielleicht Klavierspielen zu lernen. Auch kann man sich fragen, wie man die Lebensphase sinnvoll nutzen möchte: Das kann etwa soziales Engagement oder die langersehnte Reise nach Indien sein. Schließlich ist es selbst im hohen Alter nie zu spät für Veränderungen – gerade auch vor dem Hintergrund, dass die heute über 65-Jährigen in der Regel länger leben.
Sind die von Ihnen festgestellten Veränderungen ein neues Phänomen, weil die Lebenserwartung der Menschen immer weiter steigt?
Es gibt leider wenig vergleichbare Untersuchungen früherer Generationen. Fest steht jedoch: Heutige Senioren leben nicht nur länger, sie sind auch länger gesund und haben dementsprechend auch viel mehr Potenzial, sich im Alter zu verändern. (pm)
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