Auch alte Bäume lassen sich verpflanzen: Die Initiative „7 Jahre länger“ berichtet über Neuanfang im Alter
Umziehen ist nur etwas für Studenten und junge Familie. Dass dies nur die halbe Wahrheit ist, beweisen Senioren, die auch im Alter bereit für einen Wohnortwechsel sind. Der Wunsch nach einem schöneren Lebensumfeld, nach weniger Miete und damit mehr Rente im Portemonnaie zieht sie vor allem von West nach Ost, raus aus den Metropolen und hinein in kleinere Städte.
Als Jürgen Fromberg Görlitz zum ersten Mal sah, hat es sofort gefunkt. Dieser mittelalterliche Altstadtkern, die vielen prachtvoll sanierten Häuser aus der Gründerzeit – in seinem Heimatort Ingelheim und auch im benachbarten, während des Zweiten Weltkriegs fast völlig ausgebombten Mainz gab es nichts Vergleichbares. Das könnte doch ein guter Alterswohnsitz werden, dachte sich Görlitz-Tourist Fromberg und wollte es genauer wissen. Beim kostenfreien Probewohnen, der klugen Marketing-Idee einer kommunalen Wohnungsgesellschaft, testete er aus, ob aus dem anfänglichen Funken Liebe werden könnte. „Ich habe mich hingesetzt und eine Checkliste geschrieben mit Punkten, die mir im Alter wichtig sind. Darunter Mietpreise, Lebenshaltungskosten, medizinische Infrastruktur und Kulturangebot“, erzählt der heute 77-Jährige. Der haushohe Sieger am Schluss: die ostsächsische Neißestadt. Und das, obwohl auch die spanische Costa Brava und die türkische Riviera mit zur Wahl standen.
Bei 18 Prozent Leerstand war eine Wohnung schnell gefunden. 110 Quadratmeter, hohe Decken, Stuck und Flügeltüren. Mietpreis: inklusive Nebenkosten rund 700 Euro. Ein Faktor, der seine Rente merklich aufwertete, denn in Ingelheim musste Fromberg für eine vergleichbare Fläche gut 300 Euro mehr auf den Tisch legen. In Wiesbaden, auf der anderen Rheinseite, hätte er für ein ähnliches Wohnniveau sogar kaum etwas unter 1.400 Euro warm bekommen. Also brach der pensionierte Diplomingenieur 2010 all seine Zelte ab und zog vom Rhein an die Neiße.
Menschen wie Jürgen Fromberg sind ein Segen für Städte wie Görlitz. Seit dem Mauerfall hat der Ort ganz im Osten der Republik rund ein Viertel seiner einst über 72.000 Einwohner verloren. Anreize wie ein Begrüßungspaket mit Strom-Gutschrift und Freifahrten im städtischen Nahverkehr bewirken jedoch, dass hier seit 2013 wieder mehr Menschen zu- statt fortziehen. Knapp 20 Prozent der Neugörlitzer sind dabei 50 Jahre und älter, stammen vor allem aus Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Bayern. „Senioren kommen aus Großstädten und Ballungsgebieten, aber auch aus Wohnlagen, die etwas abseits liegen und deshalb für das Leben im Alter durch weite Wege zum Einkauf oder Arzt nicht besonders geeignet sind. Viele verfügen über gute Renten, wollen diese aber nicht für hohe Lebenshaltungskosten, sondern lieber für Kultur und Reisen ausgeben“, weiß Sylvia Otto von der Stadtverwaltung über die älteren Zuzügler zu berichten.
Vor allem bedingt durch den demografischen Wandel nimmt die Binnenmigration der über 65-Jährigen seit Jahren zu: Waren es 1995 noch rund 210.000 Wanderungsfälle, wechselten laut Statistischem Bundesamt 2013 bereits fast 260.000 Senioren ihren Wohnort. „Die Motive sind dabei ganz unterschiedlich“, sagt Klaus Friedrich, Professor für Sozialgeografie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. „Die Mehrheit, rund 41 Prozent, greift auf familiäre Netzwerke zurück und zieht im Alter zum Beispiel in die Nähe der Kinder. Ein Drittel nennt schlechte Wohn- und Lebensbedingungen am Herkunftsort als Ursache, ein Fünftel entscheidet sich für die klassische Ruhesitzwanderung.“ Obwohl der Spruch „Einen alten Baum verpflanzt man nicht“ noch immer gelte und Senioren im Schnitt drei Mal seltener umzögen als Jüngere, seien die „neuen“ Alten wie Jürgen Fromberg eine durchaus wachsende, mobilere Gruppe.
USA, England, Frankfurt – schon im Berufsleben war der Rheinländer viel unterwegs, zog auch in Deutschland mehrmals um. Da kam eine tiefe Verbundenheit an einen bestimmten Ort gar nicht auf. Nach dem Tod seiner Frau und dem Eintritt in den Ruhestand dann die Frage: „Soll’s das gewesen sein?“. Nein, Fromberg erfüllte er sich noch einen Lebenstraum und kutschierte als Busfahrer Touristen durch Europa. Nach einer Million Kilometer war Schluss und das Kapitel Görlitz begann.
Es sei – im Gegensatz zu den Nachwendejahren – besonders der Osten Deutschlands, der von den umzugsfreudigen Senioren profitiere, sagt Demografie-Experte Friedrich. Und: Während die Jungen in die Metropolen pilgern, entscheiden sich die über 65-Jährigen als einzige Altersgruppe gegen diesen Trend. Sie kehren Stuttgart, Düsseldorf, Frankfurt am Main, Hamburg und Co. zunehmend den Rücken und bescheren so vor allem den Großstädten Westdeutschlands Verluste. Beispiel München: Die bayerische Landeshauptstadt hat zwischen 2003 und 2013 jährlich per saldo gut 1.200 Einwohner im Alter von 50 bis 64 Jahren und weitere rund 2.000 Einwohner im Alter von mehr als 65 Jahren durch Fortzüge verloren. Alternative Wohnlagen finden die Ex-Großstädter im ländlicheren Raum. Vor allem in landschaftlich schönen Regionen, in kleinen und mittleren Städte mit Kultur- und Freizeitangeboten sowie guter Infrastruktur.
Wie beispielsweise in Weimar. Explizit um die Zielgruppe der Senioren geworben hat die thüringische Stadt nie. „Die Älteren kommen von ganz allein“, sagt Mark Schmidt vom Stadtmarketing. So verzeichnet Weimar seit 2001 rund 4.000 Zuzüge pro Jahr und ist damit eine der wenigen Städte des Bundeslandes, deren Einwohnerzahl seit Jahren wächst, die wachsende Kaufkraft verbucht und Investoren anlockt, die unter anderem Baulücken schließen. Rund elf Prozent der Neubürger sind älter als 50 Jahre, zumeist Bildungsbürger, angezogen vom reichen Kulturangebot, von großen Namen wie Goethe, Schiller und Bauhaus und einem – bedingt durch zwei Hochschulen – jungen Stadtbild. Alles also, was auch eine Großstadt bietet. Günstige Mieten on top.
Zu wenig Rente für die Miete – eine Befürchtung, die schon heute viele Deutsche an mehr Flexibilität im Alter denken lassen. Laut einer aktuellen Studien des Immobilienportals immowelt.de können sich demnach 40 Prozent der befragte Mieter vorstellen, im Ruhestand ihren Wohnort zu wechseln und in eine günstigere Gegend zu ziehen.
Dass sich das Phänomen der Binnenwanderung Älterer in Zukunft ausweiten wird, davon ist auch Thomas Beyerle, Chefanalyst der Immobiliengesellschaft Catella, überzeugt: „Es wird zwar keine Horde von Hunderttausenden Rentnern sein, die sich mit Koffern auf die Reise begibt, aber es wird viele kleine Wellen geben. Zum Beispiel hoch in den Norden und tief in den Süden.“ So verzeichnen Regionen wie das Alpenvorland, brandenburgische Landkreise wie Oderhavel oder die Küste von Nord- und Ostsee in Sachen „Neubürger im Rentenalter“ schon seit Jahren Wachstumsraten von bis zu zwei Prozent.
Ex-Rheinländer Jürgen Fromberg ist mittlerweile nochmals umgezogen. In eine stattliche 163-Quadratmeter-Wohnung mit seiner neuen Lebensgefährtin. Er ist angekommen in Görlitz. Die nun um rund fünf Stunden längere Bahnfahrt zu seinen Kindern nehme er dabei gern in Kauf: „Ich fühle mich hier einfach rundum wohl. Die Entscheidung bereut, habe ich nie.“ (pm)
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