Reaktion des Immunsystems beeinflusst die Virusvermehrung
Obwohl das Coronavirus SARS-CoV-2 für den menschlichen Organismus neu ist, hat unser Immunsystem verschiedene Abwehrstrategien, die bei Kontakt mit dem Virus greifen. Laut einer aktuellen Studie könnte die Reaktion des Immunsystems allerdings auch einen wesentlichen Anteil an der Ausbreitung des Erregers im Körper haben.
Ein Forschungsteam der Charité – Universitätsmedizin Berlin und des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC) hat gemeinsam mit Forschenden des Max-Planck-Instituts für Infektionsbiologie, der Freien Universität Berlin und der Universität Hongkong nachgewiesen, dass der körpereigene antivirale Botenstoffen Interferon-Gamma (IFN-ƴ) die Vermehrung des Coronavirus begünstigen kann. Die eigentlich zur Bekämpfung des Virus eingeleitete Reaktion des Immunsystems könnte demnach einen wesentlichen Anteil an der Ausbreitung der Erreger im Körper haben. Veröffentlicht wurden die entsprechenden Studienergebnisse in dem Fachmagazin „EMBO Molecular Medicine“.
Zehn Prozent erkranken schwer
Die Infektionen mit dem Coronavirus können einen äußerst unterschiedlichen Verlauf nehmen. Die meisten Betroffenen erleben dabei eine leichte bis mittelschwere Erkrankung an COVID-19 und sie können diese zu Hause auskurieren – selbst wenn die Krankheitsverläufe mitunter durchaus sehr belastend sind. Auch zeigen einige Infizierte überhaupt keine Symptome. Allerdings erkranken etwa zehn Prozent der Betroffenen so schwer, dass sie im Krankenhaus behandelt werden müssen, berichten die Charité und das MDC in einer gemeinsamen Pressemitteilung.
Schwaches Immunsystem keine Erklärung
Als Ursache für einen schweren COVID-19-Verlauf wird dabei auch ein schwaches Immunsystem diskutiert, doch dies greift nach Ansicht des Forschungsteam um Studienleiter Dr. Michael Sigal zu kurz. Denn gerade bei kritischen Verläufen arbeite das Immunsystem unter Hochdruck, schaffe es aber nicht, das Virus zu kontrollieren. In der aktuellen Studie sei nun deutlich geworden, wie SARS-CoV-2 einen Verteidigungsmechanismus des Immunsystems nutzt, um verstärkt Schleimhautzellen des Körpers zu entern und sich dort zu vermehren.
Verteidigungsmechanismus des Köpers
Normalerweise laufe im menschlichen Körper ein sehr effektives Verteidigungsprogramm gegen Eindringlinge ab, das auf dem Zusammenspiel verschiedener Immunzellen basiert, erläutern die Forschenden. Hierbei seien die T-Zellen von wesentlicher Bedeutung. So zerstören sie vom Virus befallene Zellen und schütten zudem den Botenstoff Interferon-Gamma (IFN-ƴ) aus, der einerseits Infektionskeime direkt bekämpfe und andererseits weitere Immunzellen auf den Plan rufe.
Signalwege in Organoiden erforscht
Das Forschungsteam nutzte für die Studie spezielle Organoide des menschlichen Dickdarms, die Erstautor Dr. Julian Heuberger in der Petrischale kultivierte. Basierend auf Zellen aus Darmbiopsien wurden in der Petrischale dreidimensional angeordnete Einheiten gezüchtet, die die Physiologie der Schleimhautzellen des menschlichen Darmtraktes abbilden. Anhand der Organoide lasse sich „das komplexe Zusammenspiel verschiedener Signalwege erforschen, die die Zelldifferenzierung von der Stammzelle bis zur spezialisierten Epithelzelle kontrollieren“, betont Dr. Heuberger.
Die gezüchteten Darmzellen behandelte das Forschungsteam zunächst mit IFN-ƴ, um die Immunreaktion des Körpers zu simulieren, und infizierte die Organoide anschließend mit SARS-CoV-2. Bei den weiterführenden Untersuchungen zeigte sich in den Organoiden eine vermehrte ACE2-Expression und eine gesteigerte Virusproduktion.
Mehr ACE2-Rezeptoren, stärkere Virusvermehrung
Neben den Immunzellen reagieren auch die Schleimhautzellen des Körpers auf IFN-ƴ, indem sie mehr ACE2-Rezeptoren ausbilden, und SARS-CoV-2 nutzt die ACE2-Rezeptoren als Einstiegspforte in die Zellen. Zudem bilden infizierte Zellen wiederum mehr ACE2. „Das heißt: Mehr IFN-ƴ bedeutet mehr ACE2. Mehr ACE2 bedeutet, dass mehr Viren in die Zellen eindringen können. Je mehr Viren in die Zellen gelangen, umso mehr Viren werden gebildet. So ebnen die Immunantwort und die Reaktion der Oberflächenzellen auf die Infektion SARS-CoV-2 den Weg“, berichten die Charité und das MDC.
Starke Immunantwort ein Nachteil?
Die Studienergebnisse könnten nach Ansicht des Erstautors Dr. Heuberger möglicherweise auch einen Teil der Erklärung dafür liefern, warum bei manchen Menschen das Immunsystem Schwierigkeiten hat, die Infektion zu regulieren oder gar zu besiegen. „Wir nehmen an, dass eine starke Immunantwort die Anfälligkeit von Schleimhautzellen für SARS-CoV-2 erhöhen kann“, ergänzt Studienleiter Dr. Michael Sigal.
„Wenn die IFN-ƴ-Konzentration von vornherein höher ist oder die Infektion eine sehr überschießende Produktion von IFN-y triggert, haben es die Viren vermutlich leichter, in die Zellen einzudringen“, erläutert Dr. Sigal weiter. Unter welchen Bedingungen das tatsächlich passiert, müsse allerdings erst in klinischen Studien untersucht werden.
Neue Ansätze zur Behandlung
Auch bestehe Hoffnung, dass die Erkenntnisse für neue Behandlungsansätze bei schweren COVID-19-Verläufen genutzt werden können, berichten die Forschenden. „Eine mögliche Strategie könnte darin bestehen, die IFN-ƴ-Antwort medikamentös auszubalancieren“, so Heuberger. Allerdings müssten dafür zunächst die Mechanismen, die der IFN-ƴ-Antwort zugrunde liegen, sehr genau analysiert werden. (fp)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Julian Heuberger, Jakob Trimpert, Daria Vladimirova, Christian Goosmann, Manqiang Lin, Rosa Schmuck, Hans‐Joachim Mollenkopf, Volker Brinkmann, Frank Tacke, Nikolaus Osterrieder, Michael Sigal:, embopress.org
- Charité – Universitätsmedizin Berlin und Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC): Wie das Immunsystem SARS-CoV-2 den Weg ebnet (veröffentlicht 15.02.2021), charite.de
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.