Forschung: Gehirn ruft Erinnerungen in unglaublicher Geschwindigkeit ab
Das menschliche Gehirn wird jeden Tag mit unzähligen Details konfrontiert. Viele der Sinneseindrücke bleiben „gespeichert“. Forscher fanden nun heraus, dass der Zugriff auf solche Erinnerungen wesentlich schneller abläuft, als bislang angenommen. Das Hirn braucht dafür nur wenige Hundert Millisekunden.
Hirn ist schneller als gedacht
Das menschliche Gehirn wird oft als biologisches Wunder bezeichnet. Selbst nach vielen Jahrzehnten kann man sich noch an lang zurückliegende Erlebnisse erinnern. Forscher haben nun herausgefunden, dass das Gehirn Erinnerungen an Erlebtes weit schneller wieder parat hat als bisher angenommen. Einer Meldung der Nachrichtenagentur dpa zufolge berichten Neurowissenschaftler der Universitäten in Konstanz und Birmingham im Fachmagazin „Journal of Neuroscience“, dass die sensorischen Hirnbereiche binnen 100 bis 200 Millisekunden aktiv werden.
Eine halbe Sekunde ist sehr lang
Zuvor ging man davon aus, dass das Gehirn länger nach Erinnerungen im Hippocampus suchen müsse. „Wir gingen bisher von etwa einer halben Sekunde aus. Das ist in den Dimensionen der Gehirntätigkeit sehr lang“, erläuterte Gerd Waldhauser, der mittlerweile an der Ruhr-Universität Bochum forscht. Die Wissenschaftler baten die Studienteilnehmer zunächst, sich bestimmte Objekte möglichst genau einzuprägen. Später fragten die Forscher die Erinnerungen wieder ab. Wie berichtet wird, wurde als Analysemethode die Elektroenzephalografie (EEG) verwendet, bei der aus Spannungsschwankungen an der Kopfoberfläche mit hoher zeitlicher Auflösung auf die Aktivität einzelner Hirnbereiche geschlossen werden kann.
Sinnesinformationen werden reaktiviert
Zum großen Teil sind bei Erinnerungen an Erlebtes dieselben Areale aktiv wie beim Abspeichern dieser Erlebnisse. Jede episodische Erinnerung ist laut den Experten einzigartig und an einen bestimmten Ort und Zeitpunkt gebunden. Im Erinnerungsprozess werden diese Sinnesinformationen reaktiviert – also beispielsweise Areale des Sehsinns wieder aktiv. Und zwar bereits nach 100 bis 200 Millisekunden wie die Analyse ergab. „Man hat gedacht, dass das Gehirn eine Weile braucht, um im Hippocampus – einer wichtigen Region für das Langzeitgedächtnis – danach zu suchen“, sagte Simon Hanslmayr von der Universität Birmingham. „Unsere Ergebnisse rütteln an dieser Vorstellung, denn sie zeigen eine sehr schnelle Reaktion des Gehirns.“ Schon frühere Studien hätten erste Hinweise darauf geliefert.
Erinnern löst auch Vergessen aus
Wie die Wissenschaftler heraus fanden, seien gerade diese frühen Prozesse für das erfolgreiche Erinnern an ein Geschehen entscheidend. Sie stellten fest, dass es den Abruf der Erinnerungen störte, wenn die frühe Reaktivierung mit sogenannter transkranieller Magnetstimulation (rTMS) gehemmt wurde. Dass das Gedächtnis durch technische Hilfsmittel beeinflusst werden kann, war auch Bestandteil älterer Untersuchungen. So haben etwa Forscher der Universität New York festgestellt, dass leichte Stromstöße zur Verbesserung der Erinnerung beitragen können. Interessant sind zudem die Erkenntnisse, die ebenfalls von Forschern der Universität Birmingham gewonnen wurden. So berichtete ein Forscherteam der Uni im vergangenen Jahr im Fachjournal „Nature Neuroscience“, dass für neue Erinnerungen alte vergessen werden. Ihren Angaben zufolge zeigte sich in einem Versuch, dass wenn Menschen sich an etwas Konkretes erinnerten, sie ähnliche, in dem Zusammenhang störende Erinnerungen, vergaßen. Erinnern löst also auch gleichzeitig Vergessen aus.
Möglicher Nutzen für die Psychiatrie
Zur aktuellen Studie erklärte Waldhauser: „Die Ergebnisse helfen uns, das episodische Gedächtnis, also die Erinnerung an Erlebnisse des Menschen, besser zu verstehen.“ Das semantische Gedächtnis hingegen speichert Fakten – wie etwa, dass Paris die Hauptstadt von Frankreich ist. Wie es hieß, könne möglicherweise die Psychiatrie einen Nutzen haben. „Es wäre hilfreich, in den Abruf von Erinnerungen eingreifen zu können, zum Beispiel bei Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen, die von wiederkehrenden unerwünschten Erinnerungen geplagt werden“, meinte Waldhauser. Es könnte sein, dass man künftig gezielt gegen diese immer wieder auftretenden Bilder vorgehen könne. Allerdings seien dafür zunächst noch weitere Studien nötig. (ad)
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