Reisen als Ursache für Verbreitung von Corona-Variante
Fachleuten zufolge sind allein in Europa Hunderte Varianten des Coronavirus SARS-CoV-2 im Umlauf, die sich alle durch kleine Mutationen in ihrem Erbgut voneinander unterscheiden. Eine dieser Varianten hat sich im vergangenen Sommer besonders erfolgreich verbreitet: EU1. Ferienreisen spielten eine bedeutende Rolle bei der Verbreitung. Was bedeutet dies nun für die anstehenden Sommerferien? Ist Reisen ohne zu hohes Risiko möglich?
Im vergangenen Jahr berichtete die Universität Basel in einer Mitteilung über eine neue SARS-CoV-2-Variante, die sich im Sommer 2020 in Europa rasant ausgebreitet hat. Maßgeblich beteiligt an dieser Forschung war Emma Hodcroft, die inzwischen am Institut für Sozial- und Präventivmedizin an der Universität Bern tätig ist. In einem aktuellen Interview gibt die Wissenschaftlerin Auskunft über die derzeitigen Erkenntnisse.
Rasante Ausbreitung in Europa
Emma Hodcroft hat mit Hilfe der von ihr mitentwickelten Sequenzierplattform Nextstrain eine neue Coronavirus-Variante (EU1) identifiziert, die sich Sommer 2020 in Europa rasant ausgebreitet hat. Die Studie wurde vor kurzem in der Fachzeitschrift „Nature“ veröffentlicht.
Bei der Verbreitung spielten Urlaubsreisen eine wichtige Rolle. Bald sind Sommerferien: Wie können wir also reisen ohne zu hohes Risiko?
Das wird in einem Interview erklärt, das Natalie Matter, die als Redaktorin bei Media Relations arbeitet und Themenverantwortliche „Gesundheit und Medizin“ in der Abteilung Kommunikation & Marketing an der Universität Bern ist, mit der Forscherin geführt hat.
„Einfluss von Reisen nicht unterschätzen“
Die Forschenden konnten zeigen, wie schnell eine Virus-Variante dominant werden kann, ohne besonders ansteckend zu sein. Frau Hodcroft wird daher gefragt, wie sie sich die starke Ausbreitung von EU1 erklärt, das letzten Sommer in Spanien aufgetaucht ist.
„Das wirklich Interessante an EU1 ist, dass wir zuerst dachten, es könnte ansteckender sein, weil wir sahen, wie seine Häufigkeit in ganz Europa anstieg. Aber je mehr wir uns damit beschäftigten, stellten wir fest, dass es einen Zusammenhang mit Reisen gab“, so die Wissenschaftlerin.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nehmen an, dass der eigentliche „Erfolg“ von EU1 darin bestand, dass es die Ferienreisen im vergangenen Sommer nutzen konnte, um sich zumindest für ein paar Monate unkontrolliert in ganz Europa auszubreiten.
„EU1 hat also gezeigt, dass eine Variante sich rasch ausbreiten kann, ohne ansteckender sein zu müssen. Selbst jetzt, wo wir Varianten haben, die ansteckender zu sein scheinen, werden wir daran erinnert, dass wir den Einfluss von Reisen nicht unterschätzen sollten. Das sollten wir im Hinterkopf behalten bei der Entdeckung neuer Varianten“, sagt Hodcroft.
Tests ein Bestandteil der Eindämmungsstrategie
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gehen davon aus, dass EU1 in den meisten Ländern Europas mehrfach aus Spanien eingeschleppt wurde – so kamen wahrscheinlich viele Urlaubsreisende aus Spanien damit zurück.
Doch dann breitete sich EU1 mit der Zeit auch in anderen europäischen Ländern Europas aus. Das heißt: selbst als Länder empfahlen, nicht mehr nach Spanien zu reisen, war EU1 zu diesem Zeitpunkt leider bereits außerhalb Spaniens. Das Virus reiste also auch zwischen anderen europäischen Ländern hin und her.
Auf die Frage, welche Eindämmungsstrategien in Bezug auf Reisen am wirksamsten sind, sagt Emma Hodcroft: „Das ist nicht einfach, aber Tests sind ein guter Weg, um zu erkennen, ob jemand mit dem Virus zurückkommt. Am wichtigsten ist, dass es die Betroffenen selbst mitbekommen.“
Laut der Expertin ist eine Quarantäne, die auf Vertrauen basiert, schwierig, wenn sich Reisende gut fühlen und denken: „Ich werde mich nicht angesteckt haben, es ist OK, wenn ich rausgehe.“ Wenn Menschen jedoch wissen, dass sie infiziert sind, ist es für sie viel einfacher zu erkennen: „Ich muss wirklich zu Hause bleiben, weil ich jemanden anstecken könnte.“
Delta-Variante vor allem in Großbritannien
Frau Hodcroft meint es ist noch etwas früh, um zu sagen, ob die Delta-Variante (die manchmal auch als „indische Variante“ bezeichnet wird) auch die dominante Variante in Europa werden könnte.
Was mit der Delta-Variante passiert, zeigt laut der Forscherin, was wir von EU1 gelernt haben: Im Moment sehen wir die Delta-Variante nicht häufig in Kontinentaleuropa, sondern vor allem in Großbritannien. Was dort wirklich anders ist, sind die zahlreichen starken Verbindungen zu Indien, und viele Personen reisten von Indien nach Großbritannien ein, bevor das Reiseverbot in Kraft trat.
„Genau wie bei EU1 machen Einreisen einen Unterschied. Das heisst jetzt nicht, dass die Variante nicht ansteckender ist, aber es macht es ein bisschen schwieriger vorherzusagen, ob das bei uns ähnlich sein wird oder ob wir es vielleicht – weil wir weniger Einschleppungen hatten – besser eindämmen können. Dazu brauchen wir aktuell mehr Daten“, so die Wissenschaftlerin.
Andere Länder unterstützen
In den USA und weiten Teilen Europas werden zwar bald eine große Anzahl an Menschen gegen die durch das Coronavirus SARS-CoV-2 ausgelöste Krankheit COVID-19 geimpft sein, doch in vielen anderen Teilen der Welt ist dies nicht so.
Die Forscherin weist daher auch darauf hin, wie wichtig es ist, andere Länder zu unterstützen. „Denn die Sache ist die: Dies ist eine globale Pandemie, und wir haben gesehen, was passiert, wenn Varianten in anderen Ländern auftreten: Sie können in unser Land kommen.“
Auch hier sind die Schutzmaßnahmen nicht perfekt. „Und was wir definitiv nicht wollen, ist, dass eine Variante entsteht, die sich im Hintergrund durchsetzen kann. Die beste Strategie ist also, alle Länder darin zu unterstützen, ihre Fallzahlen zu kontrollieren. Denn wir werden erst dann wirklich sicher vor Sars-CoV-2 sein, wenn alle Länder in der Lage sind, ihre Fallzahlen niedrig zu halten“, so Hodcroft.
Impfen lassen und flexibel bleiben
Für Menschen, die im Sommer in ein Land reisen wollen, das nicht auf der Risikoliste steht, empfiehlt die Expertin, sich impfen zu lassen „und wenn es möglich ist, bis zwei Wochen nach der zweiten Dosis zu warten. Dann sollte man eine wirklich wirksame Immunität gegen Sars-CoV-2 haben.“
Dennoch bedeutet dies nicht, dass auf weitere Sicherheitsmaßnahmen wie Hygieneregeln einhalten, verzichtet werden darf.
Zudem rät sie: „Reisen Sie bewusst. Überlegen Sie sich: was möchten Sie wirklich tun, und worauf können Sie vielleicht in diesem Jahr verzichten? Vielleicht verbringen Sie mehr Zeit am Strand und weniger Zeit in einem Club. Oder Sie versuchen, in Restaurants draussen zu sitzen.“
Und wer irgendwo hingeht, wo es voll zu sein scheint, kann immer sagen: „Das ist nichts für mich“ und den Plan ändern.
„Diesen Sommer ist Flexibilität etwas, das wir alle nutzen können. Wir sollten darüber nachdenken, wie wir mehr Zeit draussen verbringen können, und nicht etwas tun, nur weil wir gesagt haben, dass wir es tun, sondern weil wir das Gefühl haben, dass es sicher ist und wir uns dabei wohlfühlen“, so Hodcroft. (ad)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Universität Bern: «Wir sollten den Einfluss von Reisen nicht unterschätzen», (Abruf: 09.06.2021), Universität Bern
- Emma B. Hodcroft et al.: Spread of a SARS-CoV-2 variant through Europe in the summer of 2020; in: Nature, (veröffentlicht: 07.06.2021), Nature
- Universität Basel: Neue SARS-CoV-2-Variante hat sich im Sommer 2020 in Europa verbreitet, (Abruf: 09.06.2021), Universität Basel
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.