Corona-Achillesferse: Potenzial für Therapien
Weltweit werden zwar immer mehr Menschen gegen die durch das Coronavirus SARS-CoV-2 verursachte Krankheit COVID-19 geimpft, doch Impfungen allein werden wohl nicht reichen, um die Pandemie zu beenden. Wichtig sind auch Medikamente, die gegen die Erkrankung eingesetzt werden können. Hier sind Forschende nun wohl einen Schritt weiter gekommen. Sie haben möglicherweise eine Schwachstelle des Virus gefunden.
Ein Team unter der Leitung von Forschenden des Wiener IMBA (Institut für Molekulare Biotechnologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften) hat möglicherweise die Achillesferse des Coronavirus SARS-CoV-2 gefunden: Zwei zuckerbindende Proteine behindern Corona-Varianten am Eindringen. Die Ergebnisse, die das Potenzial für variantenübergreifende Therapien haben, wurden vor kurzem in der renommierten Fachzeitschrift „EMBO Journal“ veröffentlicht.
Dem Spike (S)-Protein gilt besonderes Interesse
Wie es in einer Mitteilung des IMBA heißt, wird bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie intensiv nach Möglichkeiten zur Eindämmung der Ausbreitung von SARS-CoV-2 geforscht.
In diesem Zusammenhang ist das Spike (S)-Protein (Oberflächenprotein) von besonderem Interesse, weil es der Haupteintrittsmechanismus des Virus in die Wirtszellen darstellt. So bestimmt die Interaktion des SARS-CoV-2 S-Proteins mit dem Angiotensin Converting Enzyme 2 (ACE2) der Wirtszellen die Infektiosität des Erregers.
Die Bedeutung des S-Proteins für das Überleben und die Ausbreitung des Coronavirus erfordert einen Tarnmechanismus, um es vor der Immunantwort des Wirts zu verbergen. Dabei nutzt das Virus einen sogenannten Glykosylierungsmechanismus an bestimmten Stellen des S-Proteins, um eine Zuckerhülle zu bilden, die das antigene Protein vor der Immunreaktion des Wirts verbirgt.
SARS-CoV-2 am Eindringen in Zellen hindern
Die Argumentation mag auf den ersten Blick einfach erscheinen, aber im Forschungsteam um IMBA-Gruppenleiter Josef Penninger, der auch Direktor des Life Science Institute an der University of British Columbia (UBC) in Vancouver, Kanada, ist, tauchte sofort eine Frage auf: Was ist mit den Lektinen, den zuckerbindenden Proteinen?
„Wir dachten intuitiv, dass die Lektine uns helfen könnten, neue Interaktionspartner des Spike-Proteins zu finden“, erläutert Co-Erstautor David Hoffmann, ein ehemaliger Doktorand im Penninger-Labor am IMBA.
Den Angaben zufolge sind die Glykosylierungsstellen des SARS-CoV-2-Spike-Proteins bei allen zirkulierenden Varianten hoch konserviert. Durch die Identifizierung von Lektinen, die diese Glykosylierungsstellen binden, könnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler also auf dem besten Weg sein, robuste therapeutische Maßnahmen zu entwickeln.
Die Forscherinnen und Forscher entwickelten und testeten eine Bibliothek mit über 140 Säugetierlektinen. Unter diesen wurden zwei gefunden, die stark an das SARS-CoV-2 S-Protein binden: Clec4g und CD209c.
„Wir haben nun Werkzeuge in der Hand, die die Schutzschicht des Virus binden und damit das Virus am Eindringen in Zellen hindern können“, erklärt Stefan Mereiter, Co-Erstautor und Postdoktorand aus dem Penninger-Labor. „Dieser Mechanismus könnte in der Tat die Achillesferse sein, auf die die Wissenschaft schon lange gewartet hat“, so der Experte.
Laut der Mitteilung führte der Weg vom „Immunitätsschild“ oder „Schafspelz“ von SARS-CoV-2 zu seiner Achillesferse über mehrere moderne Forschungstechniken. In Zusammenarbeit mit Peter Hinterdorfer vom Institut für Biophysik der Universität Linz (Österreich) hat das Team mit biophysikalischen Hightech-Methoden untersucht, wie die Lektinbindung im Detail abläuft.
Die Forschenden maßen beispielsweise, welche Bindungskräfte und wie viele Bindungen zwischen den Lektinen und dem S-Protein auftreten. So wurde auch klar, an welche Zuckerstrukturen Clec4g und CD209c binden.
Therapeutische Interventionen in Sicht
Eine weitere gute Nachricht: Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fanden heraus, dass die beiden Lektine an die N-Glykanstelle N343 des S-Proteins binden. Den Fachleuten zufolge ist diese spezifische Stelle so entscheidend für den Spike, dass sie bei keiner infektiösen Variante verloren gehen kann.
Tatsächlich macht eine Deletion dieser Glykosylierungsstelle das S-Protein instabil, heißt es in der Mitteilung. Zudem haben andere Gruppen gezeigt, dass Viren mit mutiertem N343 nicht infektiös sind.
„Das bedeutet, dass unsere Lektine an eine Glykanstelle binden, die für die Funktion von Spike essentiell ist – es ist daher sehr unwahrscheinlich, dass jemals eine Mutante entstehen könnte, der dieses Glykan fehlt“, sagt Mereiter.
Zur Freude des Forschungsteams verringerten die beiden Lektine auch die SARS-CoV-2-Infektiosität von menschlichen Lungenzellen. Für Josef Penninger und das gesamte Team sind diese Ergebnisse vielversprechend für variantenreiche therapeutische Interventionen gegen das Coronavirus.
„Der Ansatz ist vergleichbar mit dem Mechanismus des Medikamentenkandidaten ‘APN01’ [Apeiron Biologics], der sich in fortgeschrittenen klinischen Studien befindet. Dabei handelt es sich um ein biotechnologisch hergestelltes menschliches ACE2, das ebenfalls an das Spike-Protein bindet“, erklärt Penninger.
„Wenn das S-Protein von dem Medikament besetzt ist, wird der Zugang zur Zelle blockiert. Jetzt haben wir natürlich vorkommende Lektine von Säugetieren identifiziert, die genau das tun können.“ (ad)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Institut für Molekulare Biotechnologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften: Mögliche Achillesferse des Coronavirus: Die Neutralisierung der SARS-CoV-2-Zuckerhülle, (Abruf: 11.08.2021), Institut für Molekulare Biotechnologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
- Hoffmann D., Mereiter, S. et al.: Identification of lectin receptors for conserved SARS-CoV-2 glycosylation sites; in: EMBO Journal, (veröffentlicht: 10.08.2021), EMBO Journal
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.