Was steckt hinter Prosopagnosie?
Ist ihr Nachbar oder ein Arbeitskollege mal wieder ohne zu grüßen an Ihnen vorbeigegangen? Dahinter muss nicht zwangsweise Arroganz oder Ablehnung stecken, sondern manche Personen können tatsächlich keine Gesichter erkennen. Dieses neurologische Defizit wird in der Medizin Prosopagnosie oder umgangssprachlich Gesichtsblindheit genannt. Fachleute der Neurowissenschaft erläutern, warum einige Menschen gesichtsblind sind.
Valentin Riedl ist Arzt und Neurowissenschaftler. Er erforscht die Funktionsweise des menschlichen Gehirns. In seinem neuen Dokumentarfilm „Lost in face – Die Welt mit Carlottas Augen“ stellt der Gehirnexperte die Welt aus der Sicht einer Person dar, die unter Prosopagnosie leidet. Dabei werden vor allem die mit der Krankheit einhergehenden sozialen Schwierigkeiten beleuchtet.
Ursachen der Prosopagnosie
Die Dokumentation handelt über die Protagonistin Carlotta. Sie leidet unter Gesichtblindheit und kann nicht mal ihr eigenes Gesicht oder die Gesichter ihrer Familie erkennen. „Prosopagnosie beruht entweder auf der Mutation eines Gens, oder auf einer erworbenen Schädigung von bestimmten Nervenzellen im Gehirn“, beschreibt Neurowissenschaftler Prof. Dr. Ariel Schoenfeld, der an dem Dokumentarfilm mitwirkte. Diese Nervenzellen seien wichtig, damit wir die Gesichter uns bekannter Personen wiedererkennen können.
In den meisten Fällen ist der Defekt angeboren
„Zu 99 Prozent ist der Defekt angeboren, nur bei Wenigen entsteht nach einem Schlaganfall dasselbe Defizit“, ergänzt Riedl. Den beiden Experten zufolge sind ein bis zwei Prozent der Weltbevölkerung von Gesichtsblindheit in unterschiedlicher Ausprägung betroffen. In Deutschland seien es rund eine Millionen Personen, die Schwierigkeiten bei der Gesichtserkennung haben.
Im Rahmen des Films zeigt Künstlerin Carlotta, wie sie mit der Prosopagnosie umgeht und wie sie über Kunst, Natur und den Umgang mit Tieren schließlich einen Zugang zu ihrem eigenen Gesicht und zu ihren Mitmenschen gefunden hat.
Defekt weitgehend unerforscht
Das Institut für Kognitive Neurowissenschaft an der Ruhr Universität Bochum berichtet, dass die angeborene Prosopagnosie wahrscheinlich vererbt wird. In Familien, in denen ein Familienmitglied unter Gesichtblindheit leidet, seien oftmals auch weitere Familienmitglieder betroffen. Studien über genetische Marker, die Prosopagnosie nachweisen können, existieren bislang jedoch nicht.
Auswirkungen der Prosopagnosie im Alltag
Menschen mit Gesichtblindheit werden von ihren Mitmenschen oft als unsozial, arrogant oder eigenartig wahrgenommen. Die Betroffenen wissen häufig nicht, mit wem sie reden sollen oder scheinen andere Menschen einfach zu ignorieren.
Hieraus können schnell soziale Probleme entstehen, da die Patientinnen und Patienten über die fehlende Fähigkeit zur Gesichtserkennung in ihrer Kommunikation eingeschränkt sind und andere Menschen darauf negativ reagieren, was die Prosopagnosie-Betroffenen noch weiter verunsichert. Mangelndes Selbstbewusstsein und in schlimmeren Fällen Depressionen sind nicht selten das Resultat der sozialen Spannungen, die mit der Krankheit einhergehen.
Betroffene wissen oft nichts über ihre Krankheit
Zwar merken Prosopagnosie-Betroffene meist schon früh, dass sie irgendwie anders sind als andere Personen, sie können diese Andersartigkeit in vielen Fällen aber nicht richtig bestimmen. Laut den Fachleuten des Instituts für Kognitive Neurowissenschaft kann eine Diagnose den Betroffenen helfen, ihr Problem besser einzuordnen. Viele Menschen mit Gesichtsblindheit berichten, dass sie nach der Diagnose sehr erleichtert waren, da sie wussten, dass es sich um einen anerkannten neurologischen Defekt handelt, obwohl es derzeit keine Heilung für die Gesichtblindheit gibt. (vb)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Leibniz-Institut für Neurobiologie: LOST IN FACE – WIE IST ES, WENN MAN KEINE GESICHTER ERKENNEN KANN? (veröffentlicht: 16.09.2021), lin-magdeburg.de
- Institut für Kognitive Neurowissenschaft an der Ruhr Universität Bochum: Prosopagnosie (Gesichtsblindheit) (Abruf: 16.09.2021), ruhr-uni-bochum.de
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.