Wie Proteine die Hungerwahrnehmung steuern
Wenn wir länger nichts essen, bekommen wir Hunger. Wenn wir dann etwas essen, setzt die Sättigung ein und wir hören auf zu essen. Dieses alltägliche Wechselspiel kennt wohl so gut wie jede Person. Bei einigen Menschen ist die Hungerwahrnehmung und die Sättigung jedoch gestört. Ein Forschungsteam fand nun bei Fruchtfliegen heraus, welches Protein Hunger und Sättigung reguliert.
Eine Arbeitsgruppe der Medizinischen Universität Innsbruck zeigte, dass das Chromatin-Protein CHD1 die Hungerwahrnehmung im Gehirn von Fruchtfliegen steuert. CHD1 kommt den Forschenden zufolge in allen Organismen vor – von der Hefe bis zum Menschen. Es sei daher wahrscheinlich, dass das Protein auch beim Menschen eine entscheidende Rolle im Hunger- und Sättigungsprozess spielt. Die Forschungsergebnisse wurden kürzlich in dem renommierten Fachjournal „Cell Reports“ publiziert.
Was macht das Protein CHD1?
Nach Angaben der Forschungsgruppe sorgt das Protein CHD1 dafür, dass die Aktivität von Genen, die Hunger und Sättigungsgefühl steuern, korrekt reguliert wird. Bei Fruchtfliegen führe ein Fehlen des Proteins zu einer deutlicher verringerten Nahrungsaufnahme und in Folge zu einer verkürzten Lebensdauer, wie die Innsbrucker Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Alexandra Lusser nun nachweisen konnten.
Ständiges Sättigungsgefühl bei fehlendem CHD1
Die Fruchtfliegen, bei denen das Protein CHD1 fehlte, hatten der Studie zufolge ein ständig anhaltendes Sättigungsgefühl. Sie hatten kein Bedürfnis mehr zum Essen und verweigerten die Nahrungsaufnahme. Das führte zu starken Störungen im Metabolismus sowie zur Erhöhung von kritischen Entzündungsmarkern. Ihre durchschnittliche Lebenserwartung von rund 80 Tagen verkürzt sich um zwei Drittel.
Das Team zeigt somit erstmals, dass das Protein CHD1 eine sehr wichtige Auswirkung auf das Gehirn von Fruchtfliegen und wahrscheinlich auch auf das Gehirn von Menschen hat. Es scheint zu den Hauptregulatoren von Hunger und Sättigung zu gehören. In weiteren Forschungsarbeiten soll nun untersucht werden, welche Rolle das Protein beim Menschen spielt und ob es durch Alterung oder Ernährung beeinflusst wird.
Fruchtfliegen als Stammgast in Forschungsmodellen
Seit über 100 Jahren nutzen Forschungsteams weltweit die Fruchtfliege Drosophila als Modellorganismus für Forschungszwecke. Viele wichtige Grundlagen der Krebsforschung, Entwicklungsbiologie und der Neurowissenschaften entstammen aus Fruchtfliegen-Modellen.
Hintergrund: Was sind Histone?
Wie die Forschenden zeigten, erfüllt CHD1 fundamentale Aufgaben in Organismen. Es sei beispielsweise dafür zuständig den Einbau von Histon-Varianten in das Chromatin zu regulieren. Bei Histonen handelt es sich um kleine, basische Chromatin-Proteine, die nur im Zellkern vorkommen. Als Chromatin bezeichnet man spezielle Komplexe aus DNA und Proteinen. Sie bilden die Chromosomen, die die Gene enthalten.
Doch die Erbinformationen liegen im Zellkern nicht einfach lose herum, betont die Arbeitsgruppe. Sie werden mithilfe der Histonen in dichte Strukturen verpackt. Bei jeder Zellteilung wird die neue Zelle mit diesen Paketen aus Histonen und neu gebildeter DNA beladen. „Werden Gene jedoch abgelesen im Zuge der Transkription, kann es zum Verlust von Histonen kommen“, erklärt Lusser. Um Schäden an der DNA zu vermeiden, müssen die fehlenden Histone dann ersetzt werden. Passiert dies nicht, kann es zur „unerwünschten Aktivierung von Abschnitten des Genoms“ kommen.
Solche Fehler können vor allem während der Zellteilung oder während der Transkription durch den Einbau von Histon-Varianten auftreten. Gehirnzellen teilen sich im Laufe des Lebens jedoch praktisch nicht mehr. Somit ließen sich die Fehler „ausschließlich auf den Transkriptionsprozess“ beschränken, so Lusser.
Transkription gerät ohne CHD1 außer Kontrolle
In der aktuellen Arbeit konnten die Forschenden nachweisen, dass bei Fruchtfliegen in der Lebensmitte rund 40 Prozent aller Histone bereits ausgetauscht wurden. In diesem Prozess scheint das Protein CHD1 eine entscheidende Rolle zu spielen. Wenn das Protein bei den Fruchtfliegen fehlte, war eine Histonvariante namens H3.3 im Gehirn stark reduziert, woraufhin die Transkription im Gehirn außer Kontrolle geriet.
Wenn Genomabschnitte offen liegen
„Ein Großteil der Gene wird hochreguliert, es werden mehr Gene transkribiert als normal“, fasst Lusser den Vorgang zusammen. Durch das fehlende H3.3 werde Chromatin nicht mehr so dicht gewickelt, wodurch Abschnitten des Genoms aktiviert werden, die nicht aktiviert werden sollten. Zudem werden Gene, die abgelesen werden sollen, verstärkt abgelesen.
In den Genomabschnitten, die durch das Fehlen von H3.3 verstärkt oder fehlerhaft abgelesen werden, befinden sich den Forschenden zufolge zahlreiche Neuropeptide, die Hunger und Sättigung regulieren sowie antimikrobielle Peptide, die einen Teil des Immunsystems ausmachen, wodurch der chronische Entzündungszustand der Fliegen erklärt werden könne.
Vorgang ist reversibel
Interessant war auch, dass sich alle fehlerhaften Prozesse erholten, wenn den Fliegen das Protein CHD1 wieder zugeführt wurde. „Wenn man CHD1 wieder ins Gehirn einführt, werden alle Defekte behoben und die Fliegen haben eine ganz normale Lebenszeit“, unterstreicht die Studienleiterin.
Was bedeutet dies für den Menschen?
Für Alexandra Lusser ist es durchaus vorstellbar, dass sich ein CHD1-Mangel beim Menschen ähnlich auswirken könnte. „Da es beim Menschen sieben CHD1-Untertypen gibt, deren Rollen und Zusammenwirken schwer einzugrenzen sind, ist der Prozess viel komplexer“, gibt sie zu bedenken. Dies muss in zukünftigen Studien genauer untersucht werden. (vb)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Medizinische Universität Innsbruck: Chromatin-Protein CHD1 steuert Hungerwahrnehmung im Fliegenhirn (veröffentlicht: 12.10.2021), i-med.ac.at
- Alexandra Lusser, Ines Schoberleitner, Ingo Bauer, et al.: CHD1 controls H3.3 incorporation in adult brain chromatin to maintain metabolic homeostasis and normal lifespan; in: Cell Reports, 2021, cell.com
Wichtiger Hinweis:
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