Wie Medikamente und COVID-19 das Darmgewebe beeinflussen
Ein Forschungsteam der renommierten Harvard University stellt eine neue Methode vor, mit der die Auswirkungen von Virus-Infektionen sowie von Medikamenten-Einnahmen auf den Darm analysiert werden kann. Mithilfe des neuen Instruments untersuchte das Team, wie COVID-19 die Darmgesundheit beeinflusst und legte so die Grundlage für potenzielle Behandlungen.
Eine Arbeitsgruppe des Wyss Institute for Biologically Inspired Engineering an der Harvard University zeigte, dass ein spezieller Chip, an dem lebendes Gewebe angeschlossen ist, komplexe Untersuchungen des Darms ermöglicht, die in dieser Form zuvor nicht möglich waren. Mithilfe eines sogenannten Intestine Chips konnte das Team neue Erkenntnisse über die Auswirkungen von COVID-19 auf den Darm gewinnen. Der Chip könnte auch dazu genutzt werden, die Auswirkungen von anderen Virus-Infektionen oder Medikamenten auf den Darm zu analysieren. Die Ergebnisse wurden kürzlich in dem renommierten Fachjournal „Frontiers in Pharmacology“ präsentiert.
COVID-19 kann Darmbeschwerden verursachen
Neben den bekannten Leitsymptomen von COVID-19 wie Atembeschwerden und Geschmacks- oder Geruchsverlust berichten rund 60 Prozent der Betroffenen mit symptomatischen SARS-CoV-2-Infektionen über gastrointestinale Symptome wie Übelkeit, Durchfall und Bauchschmerzen. Die Forschenden vermuten, dass dies mit der hohen Menge an ACE2-Rezeporen im Darm zusammenhängt, die das Coronavirus zum Eindringen in die Zellen nutzt.
Die Grundlagen der Darmgesundheit sind äußerst komplex
Im Darm finden komplexe Prozesse statt, die in den letzten Jahren immer mehr in den Fokus der Forschung gerückt sind. Viele Aspekte der Darmgesundheit gelten als noch nicht ausreichend verstanden. Die genauen Wechselwirkungen zwischen Viren und dem Darmgewebe wurden bislang nur wenig an menschlichem Gewebe untersucht. Die bisherigen Erkenntnisse stammen hauptsächlich aus Tiermodellen und lassen sich somit nicht zwangsweise auf den Menschen übertragen.
Symbiose aus Computertechnologie und Organiod-Forschung
Um dieses Problem zu lösen, haben die Forschenden erstmals einen sogenannten Intestine Chip verwendet, um die Prozesse an menschlichem Gewebe nachzuvollziehen. Diese „Organchips“ stellen eine Symbiose aus der neusten Computertechnologie und der Organoid-Forschung dar. Dabei wird ein im Labor gezüchtetes lebendes Gewebe mit einem Computerchip verbunden, der die Funktionen des restlichen Körpers simuliert. Auf diese Art und Weise können bestimmte Prozesse in dem angeschlossen Gewebe genauer analysiert werden.
Computer-Chip simuliert die Verdauung
Der in der Forschung verwendete Intestine Chip hat ungefähr die Größe eines USB-Sticks. Das daran angeschlossene Darm-Gewebe interagiert über zwei Schnittstellen mit dem Chip. Die eine Schnittstelle ist mit menschlichen Blutgefäßzellen ausgekleidet, die andere mit menschlichen Darmschleimhautzellen.
Eine durchlässige Membran zwischen den beiden Kanälen sorgt dafür, dass die Zellen molekulare Botenstoffe austauschen können und dass Stoffe über den Darm ins Blut gelangen können. Auf diese Weise wird ein Verdauungsprozess simuliert. Zudem wird das Gewebe kontinuierlich gedehnt und entspannt, wie es im natürlichen Gewebe auch durch Muskelkontraktionen im Magen-Darm-Trakt der Fall ist.
Die Forschenden betonen, dass diese komplexen Intestine Chips viel genauere Untersuchungen an lebenden Gewebe ermöglichen, als Zellen, die in einer Schale gezüchtet werden. Anhand des Gewebes kann beispielsweise nachvollzogen werden, wie menschliche Organe auf eine Infektion mit Krankheitserregern reagieren oder auf Wirkstoffe.
Gewebe wurde mit einem Coronavirus infiziert
Die Arbeitsgruppe infizierte das Gewebe auf dem Chip mit dem Coronavirus NL63, der genau wie SARS-CoV-2 den ACE2-Rezeptor nutzt, um in die Zellen einzudringen. Anschließend testeten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedene Wirkstoffe, die zur Behandlung von COVID-19 vorgeschlagen wurden.
Sie fanden so heraus, dass ein kurz wirkendes gerinnungshemmendes Medikament namens Nafamostat die Infektion reduzierte, während das Medikament Remdesivir, das teilweise zur Behandlung von COVID-19 eingesetzt wurde, die Infektion nicht reduzierte und sogar das Darmgewebe schädigte. Dieses neue präklinische Modell könnte in Zukunft zur Identifizierung von Arzneimitteln verwendet werden, die auf die Reduzierung von gastrointestinalen Symptome abzielen.
Neues Modell erlaubt tiefere Einblicke ins Darmgewebe
„Wir waren überrascht, dass Remdesivir eine so deutliche Toxizität für das Gefäßgewebe im Darm-Chip aufweist“, betont Studienerstautorin Girija Goyal vom Wyss-Institut. Dies könne womöglich die Magen-Darm-Beschwerden erklären, die als häufige Nebenwirkung in Remdesivir-Studien berichtet wurden. Das Modell könne aber „auch dabei helfen, die Wirksamkeit und Toxizität anderer ähnlicher Medikamente besser zu verstehen“, verdeutlicht Goyal.
Grundsätzlich könne der Darm-Chip genutzt werden, um die verschiedensten Wechselwirkungen zwischen Viren, Medikamenten und dem Darmgewebe zu modellieren. In weiteren Untersuchungen testete das Team die Auswirkung einer ganze Reihe von oral einnehmbaren Medikamenten, darunter Toremifen, Nelfinavir, Clofazimin und Fenofibrat. Alle Wirkstoffe haben in Laboruntersuchungen die Infektion durch SARS-CoV-2 und andere Viren gehemmt. Dabei zeigte sich, dass Toremifen und Nafamostat zur größten Reduzierung der Viruslast auf dem Darm-Chip führten.
Darm-Chip soll Medikament-Entwicklung beschleunigen
„Diese Studie zeigt, dass wir mit unserem Darm-Chip als präklinischem Modell komplexe Wechselwirkungen zwischen Zellen, Krankheitserregern und Medikamenten im menschlichen Darm untersuchen können“, resümiert Studienhauptautor Don Ingber. Die Arbeitsgruppe hofft, dass das Modell dazu beitragen wird, bessere Medikamente gegen COVID-19 und andere Virus-Erkrankungen hervorzubringen. (vb)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Amir Bein, Seongmin Kim, Girija Goyal, et al.: Enteric Coronavirus Infection and Treatment Modeled With an Immunocompetent Human Intestine-On-A-Chip; in: Frontiers in Pharmacology, 2021, frontiersin.org
- Wyss Institute: A new tool for studying COVID’s impact on gut health (veröffentlicht: 08.11.2021), wyss.harvard.edu
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.