Schlaganfall-Regenration: Neuvernetzung von Nervenzellen
Der Schlaganfall ist eine bedrohliche Herz-Kreislauf-Erkrankung mit weitreichenden Folgen: Jedes Jahr erleiden etwa 270.000 Menschen in Deutschland einen solchen Infarkt. Viele sterben daran, andere bleiben dadurch dauerhaft körperlich eingeschränkt. Forschende berichten nun, dass sie einen entscheidenden Baustein der Regeneration nach einem Schlaganfall identifiziert haben.
Ein Forschungsteam am Universitätsklinikum Jena kommt zu dem Schluss, dass das Zellgerüstprotein Cobl eine zentrale Rolle für die Neuvernetzung von Nervenzellen nach einem Schlaganfall spielt. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beschreiben in dem Fachjournal „PLOS Biology“ einen grundlegenden molekularen Mechanismus, der kurz nach dem Infarkt und benachbart zur betroffenen Hirnregion eine effektive Umgestaltung neuronaler Netzwerke ermöglicht.
Weitreichende Umgestaltungen neuronaler Netzwerke
Wie das Universitätsklinikum Jena in einer aktuellen Mitteilung schreibt, sind Schlaganfälle eine Haupttodesursache und auch die Hauptursache für Behinderungen im Erwachsenenalter.
Etwa 40 Prozent der Überlebenden leiden drei Monate danach noch immer an schweren bis mittelschweren Beeinträchtigungen, da die Nervenzellen und die Netzwerkverbindungen in der vom Infarkt betroffenen Hirnregion unwiederbringlich verloren sind.
Je nach Schwere des Infarkts setzen aber Reparaturmechanismen ein, die Gehirnfunktionen in Teilen oder sogar vollständig wiederherstellen können. Allerdings erfordert das weitreichende Umgestaltungen neuronaler Netzwerke, die bisher nicht gut verstanden sind.
Entwicklung und Vernetzung von Nervenzellen
Am Universitätsklinikum Jena erforschen die Arbeitsgruppen um Prof. Dr. Britta Qualmann sowie PD Dr. Michael Kessels seit längerem, wie die Entwicklung und Vernetzung von Nervenzellen im sich entwickelnden Gehirn abläuft. Mit ihren Ergebnissen konnten die Forscherinnen und Forscher am Institut für Biochemie I zum Verständnis der zellbiologischen Gestaltbildungsprozesse in der frühen neuronalen Entwicklung beitragen.
„Es lag also nahe, sich zu fragen, ob Nervenzellen im voll entwickelten, erwachsenen Gehirn nach einem Schlaganfall irgendwie Fähigkeiten wieder erlangen könnten, die wir von Entwicklungsprozessen im frühesten Kindesalter kennen, und ob diese dann eventuell von ähnlichen Komponenten angetrieben werden“, erläutert Dr. Kessels.
„Die Signale, die solche Prozesse auslösen, müssten natürlich speziell mit dem Schlaganfallgeschehen verbunden sein. Hier drängten sich insbesondere die extrem hohen Kalzium-Signale nach einem Schlaganfall auf“, erklärt Prof. Dr. Qualmann weiter.
Wichtiges Protein
Besonders interessierten sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für das Protein Cobl, das sie in früheren Arbeiten als wichtige Komponente im Zellskelett von Nervenzellen identifiziert hatte. Den Angaben zufolge treibt Cobl die Ausbildung und die Verzweigung von Dendriten an, den für die Signalweitergabe wichtigen Zellfortsätzen der Neuronen, und wird durch sehr hohe Kalzium-Signale abgebaut.
In Gehirnen von Mäusen, bei denen durch den kurzzeitigen Verschluss der Hirnarterie unter Betäubung künstlich ein Schlaganfall ausgelöst wurde, fiel das Cobl-Niveau laut den Forschenden tatsächlich abrupt ab. Interessanterweise glich aber eine vermehrte Neusynthese den Cobl-Verlust schon nach einem Tag wieder effizient aus.
Wofür wird Cobl nach einem Schlaganfall so dringend gebraucht? Dies zeigten umfassende Analysen der Nervenzellgestalt zu verschiedenen Zeitpunkten nach Schlaganfall – sowohl in normalen Mäusen als auch in Tieren, die durch eine Genveränderung kein Cobl herstellen können.
„Auch Nervenzellen im Umfeld der eigentlichen Infarktregion büßten nach einem Schlaganfall nach sechs Stunden einen Großteil ihrer Verzweigungen ein“, erläutert Dr. Yuanyuan Ji die zunächst auftretenden, gravierenden Schlaganfallfolgen. „Faszinierenderweise schafften es die Neuronen aber an den Folgetagen, ihre Dendriten wieder neu auswachsen zu lassen“, sagt Dr. Ji.
Nervenzellen „suchten“ offensichtlich nahe der Infarktregion durch verstärktes Wachstum ihres weitverzweigten Dendritenbaumes in einem kritischen Zeitfenster ein bis vier Tage nach dem Infarkt intensiv nach weiteren Zellen, mit denen sie sich neu vernetzen können.
Bei Tieren, die durch Manipulation des entsprechenden Gens kein Cobl haben, konnte diese Zellantwort hingegen nicht beobachtet werden. Der Defekt in den Gehirnen von diesen Mäusen war dramatisch. Ohne Cobl verblieben die Nervenzellen selbst am vierten und selbst noch am siebten Tag auf dem durch den Schlaganfall stark beeinträchtigten Ausgangsniveau.
Noch mehr Forschung nötig
Also ist das Zellgerüstprotein Cobl absolut notwendig für Neuverzweigungen von Nervenzellausläufern, damit sich im durch Schlaganfall geschädigten Gehirn neue neuronale Netzwerke bilden und verlorene Funktionen übernehmen können.
„Diese Entdeckung stärkt unsere These, dass bei Umgestaltungen der Zellgestalt starke Kraftausübungen von Zytoskelett-Strukturen in den Nervenzellen erforderlich sind. Cobl fördert die Bildung genau solcher Strukturen“, erklärt Britta Qualmann.
Zu den zukünftigen Forschungsanstrengungen des Institutes und den sich für Schlaganfallpatientinnen und -patienten daraus ergebenden Perspektiven ergänzt sie: „Das heißt jetzt natürlich, dass wir dringend noch mehr über die Funktion und vor allem über die gezielte Schaltbarkeit von Cobl herausfinden müssen.“ (ad)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Universitätsklinikum Jena: Netzwerk-Regeneration nach Schlaganfall: Entscheidender Baustein identifiziert, (Abruf: 31.01.2022), Universitätsklinikum Jena
- Ji, Y et al.: Poststroke dendritic arbor regrowth requires the actin nucleator Cobl; in: PLOS Biology, (veröffentlicht: 13.12.2021), PLOS Biology
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.