Alzheimer: Stärkung der Gehirn-Abwehrkräfte könnte helfen
Eine neue Studie liefert Hinweise darauf, dass die Immunzellen des Gehirns bei Menschen mit einer Veranlagung für die Alzheimer-Erkrankung bereits bis zu zwei Jahrzehnte vor dem Auftreten von Symptomen eine schützende Wirkung entfalten. Eine Stärkung der Abwehrkräfte des Gehirns könnte helfen, die Erkrankung zu bekämpfen.
Alzheimer ist die häufigste Form der Demenz. Der Verlauf der bislang unheilbaren Krankheit lässt sich durch verschiedene Behandlungen positiv beeinflussen. Wichtig hierfür ist eine frühe Diagnose. Forschende berichten nun über eine schützende Wirkung von Immunzellen, die schon Jahrzehnte vor Symptomen eintreten kann.
- Laut einer neuen Studie beginnen die Immunzellen des Gehirns – die „Mikroglia“ – bei Menschen mit einer genetischen Veranlagung für die Alzheimer-Erkrankung bis zu zwei Jahrzehnte vor dem Auftreten von Symptomen eine schützende Wirkung zu entfalten.
- Vor dem Hintergrund ihrer Studiendaten halten die Forschenden eine gezielte Beeinflussung der Mikroglia für einen vielversprechenden Therapieansatz. Sie wollen dazu Medikamente entwickeln, die auf einen zellulären Rezeptor einwirken.
Genmutationen von Generation zu Generation vererbbar
Wie das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in einer aktuellen Mitteilung erklärt, entwickeln etwa ein Prozent der Menschen mit Alzheimer die Erkrankung infolge von Genmutationen, die von Generation zu Generation vererbt werden können.
Im Rahmen der internationalen Beobachtungsstudie DIAN beteiligen sich das DZNE und die Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München an der Erforschung dieser genetisch bedingten Form der Alzheimer-Erkrankung.
Zur DIAN-Studienkohorte zählen neben Erwachsenen mit Genmutationen, die Alzheimer auslösen, auch nahe Verwandte ohne solche Mutationen.
Anzeichen für eine erhöhte Aktivität der Mikroglia
Für die aktuellen Untersuchungen, die in dem Fachjournal „The Lancet Neurology“ veröffentlicht wurden, analysierte ein Team um den Molekularbiologen Prof. Christian Haass und der Neurologin Dr. Estrella Morenas-Rodríguez wie Anzeichen für eine erhöhte Aktivität der Mikroglia mit der Entwicklung bestimmter Biomarker der Alzheimer-Krankheit zusammenhingen.
Hierfür wurden das Nervenwasser und die geistige Leistungsfähigkeit von 248 Teilnehmenden der DIAN-Studie – sie deckten die verschiedenen Stadien der Alzheimer-Krankheit ab – über mehrere Jahre hinweg analysiert.
Außerdem wurden die Probandinnen und Probanden mittels Magnetresonanztomografie (MRT) und Positronen-Emissionstomografie (PET) untersucht, um eine Schrumpfung des Gehirns und die sogenannte Amyloid-Pathologie zu erfassen – beides sind Kennzeichen von Alzheimer.
Nicht nur schädlich
Ausgangspunkt für die Forschenden war ein Eiweißstoff namens TREM2. „Das ist ein Rezeptor auf der Oberfläche von Mikroglia, Teile davon können sich jedoch ablösen und sind dann im Nervenwasser nachweisbar“, erklärt Christian Haass, Forschungsgruppenleiter am DZNE und Professor für Biochemie an der LMU München.
„Man weiß aus Laborstudien, insbesondere an Mäusen, aber auch aus unseren vorherigen Studien am Menschen, dass der Spiegel von TREM2 im Nervenwasser ein guter Indikator für die Aktivität der Mikroglia ist. TREM2 ist eine Art Aktivitätsschalter. Mit dem TREM2-Spiegel wächst auch die schützende Aktivität der Mikroglia“, so der Wissenschaftler.
Lange wurde davon ausgegangen, „dass die Mikroglia im Zuge von Alzheimer hauptsächlich Schaden anrichten, da sie chronische Entzündungsprozesse befeuern können.“ Doch inzwischen mehren sich die Hinweise dafür, „dass die Mikroglia zumindest am Anfang der Erkrankung eine Schutzwirkung haben.“ Diese Vermutung wird durch die aktuellen Daten bestärkt.
„Ein entscheidender Faktor, der unsere Beobachtungen ermöglichte, und der auch eine Herausforderung darstellte, war, dass wir zum ersten Mal in der Lage waren, den Anstieg des TREM2-Markers longitudinal zu untersuchen“, fügt Dr. Estrella Morenas-Rodríguez hinzu.
„Das heißt, wir haben den Marker in mehreren Proben gemessen, die jeweils von denselben Personen stammten und alle ein oder zwei Jahre entnommen wurden. Damit könnten wir die Entwicklung der verschiedenen Prozesse, die bei der Alzheimer-Krankheit ablaufen, besser erfassen als mit der Untersuchung von Proben zu nur einem einzigen Zeitpunkt.“
Frühzeitige Anzeichen einer Erkrankung
In der Regel erkranken Menschen mit einer genetischen Veranlagung für Alzheimer im ähnlichen Alter wie ihre Verwandten mit der gleichen Mutation, die Demenzsymptome bereits aufweisen. Anhand dieser Erfahrungswerte konnten die Forscherinnen und Forscher den Zeitraum bis zum Ausbruch von Symptomen für alle Studienteilnehmenden individuell abschätzen.
Sie stießen dabei auf frühzeitige Anzeichen einer Erkrankung. „Wir haben festgestellt, dass der TREM2-Wert im Nervenwasser bereits bis zu 21 Jahre vor dem geschätzten Ausbruch der Erkrankung ansteigt“, sagt Haass.
„Außerdem haben wir beobachtet, dass je schneller TREM2 im Laufe der Jahre ansteigt, desto langsamer schreiten im Gehirn krankhafte Prozesse voran, die für Alzheimer typisch sind. Das können wir aus Biomarkern für sogenannte Amyloid-Proteine und Tau-Proteine ableiten.“
Die Untersuchungen des Gehirns mittels MRT und PET wiesen in ähnliche Richtung: Bei Probandinnen und Probanden, bei denen der TREM2-Wert rasch anstieg, entwickelten sich die für Alzheimer charakteristischen Ablagerungen von Amyloid-Proteinen langsamer und das Hirnvolumen ging langsamer zurück.
„Neben dem Zusammenhang mit einem langsameren pathologischen Prozess war es einer unserer wichtigsten und vielversprechendsten Befunde, dass der schnellere TREM2-Anstieg mit einem langsameren kognitiven Abbau in einem frühen Stadium der Alzheimer-Krankheit einhergeht. Das hat wichtige Auswirkungen auf die Behandlung“, erläutert Morenas-Rodríguez.
„Wir sehen unsere Befunde als Beleg dafür, dass die von TREM2-vermittelte Aktivität der Mikroglia eine schützende Wirkung hat“, sagt Haass. „Nach unserer Ansicht werden die Mikroglia aktiv, sobald sich erste Amyloid-Proteine im Gehirn ablagern“, so der Experte.
„Sie werden also schon in einer extrem frühen Phase der Alzheimer-Erkrankung aktiv, lange bevor Ärzte Auswirkungen auf die Gedächtnisleistung sehen. Das beobachten wir und unsere Kolleginnen und Kollegen vom DZNE-Standort Tübingen auch im Tiermodell.“
Schützende Wirkung gezielt stärken
Das Team um Haass forscht bereits seit einiger Zeit an Wirkstoffen, die die schützende Wirkung der Mikroglia gezielt stärken sollen. Als Ansatzpunkt dient der auf der Zelloberfläche verankerte TREM2-Rezeptor.
„Wir sind noch in der Laborphase. Die aktuellen Ergebnisse beim Menschen zeigen jedoch, dass die Beeinflussung von TREM2 eine vielversprechende Strategie ist, um neue Optionen gegen Alzheimer zu entwickeln“, erklärt Haass.
„Auch wenn wir in diesem speziellen Fall die genetisch bedingte Form der Erkrankung untersucht haben, gehen wir davon aus, dass unsere Befunde auch für die sogenannte sporadische Krankheitsvariante gelten, die weitaus häufiger vorkommt. Entscheidend ist sicherlich, dass die Behandlung frühestmöglich beginnt. Die heutigen Therapien kommen alle viel zu spät, um wirklich wirksam zu sein.“ (ad)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen: Alzheimer-Erkrankung: Schützende Immunzellen schon Jahrzehnte vor Ausbruch aktiv, (Abruf: 20.03.2022), Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen
- Estrella Morenas-Rodríguez et al.: Soluble TREM2 in CSF and its association with other biomarkers and cognition in autosomal-dominant Alzheimer's disease: a longitudinal observational study; in: The Lancet Neurology, (Abruf: 20.03.2022), The Lancet Neurology
- Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen: DIAN, (Abruf: 20.03.2022), Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.