Krebs: Wie Krebszellen der Hahn abgedreht werden könnte
Das Neuroblastom ist eine Krebserkrankung des Nervensystems, die vor allem Kleinkinder bis zum sechsten Lebensjahr betrifft. Forschende haben nun herausgefunden, dass ein Aminosäuremangel Tumore schrumpfen lässt.
Bestimmte kindliche Tumoren sind wahre Aminosäure-Monster. Forschende haben jetzt entdeckt, welche molekularen Mechanismen dem zugrunde liegen und wie den Krebszellen der Hahn abgedreht werden könnte. Ihre Erkenntnissee wurden in der Fachzeitschrift „Nature Cancer“ veröffentlicht.
Schwer zu behandeln
Pro Jahr erkrankt etwa eines von 100.000 Kindern neu an einem Neuroblastom, oft bereits im ersten Lebensjahr. Neuroblastome sind somit eine bei Kindern relativ häufige Gruppe von Tumoren.
Sie bilden sich schon in der Embryonalentwicklung im unreifen Nervengewebe aus und kommen vor allem in der Nebenniere, der Wirbelsäule, im Halsbereich sowie im Brust-, Bauch- und Beckenraum vor, erklärt das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) in einer aktuellen Mitteilung.
Neuroblastome sind schwer zu behandeln und oft therapieresistent. Betroffen sind vor allem Säuglinge und Kleinkinder. In einigen Fällen bildet sich der Tumor ohne jegliche Behandlung komplett zurück. Bei etwa der Hälfte der Patientinnen und Patienten schreitet der Krebs jedoch trotz hochintensiver Therapie unaufhaltsam voran.
In welche Richtung sich die Erkrankung entwickelt
Eine wichtige Stellschraube, die darüber entscheidet, in welche Richtung sich die Krankheit entwickelt, ist das Krebsgen MYCN. Erst vor kurzem wurde bekannt, dass dieses Gen die Weichen stellt, ob sich Vorläuferzellen in reife Nervenzellen entwickeln oder zu bösartigen Neuroblastomzellen werden.
Zudem tragen Neuroblastome mit ungünstigem Verlauf hunderte aktive Kopien des MYCN-Gens in ihrem Erbgut. Die hohe MYCN-Aktivität führt dazu, dass der Metabolismus der Krebszellen tiefgreifend verändert wird, da MYCN wiederum eine Vielzahl anderer Gene an- und abschaltet.
Doch welchen Vorteil bringt das der Krebszelle und lässt sich dieses hochspezielle Netzwerk gezielt stören, um die Krebszellen aktiv zu bekämpfen?
Diese Fragen stellte sich das Forschungsteam, geleitet von Frank Westermann vom Hopp-Kindertumorzentrum Heidelberg (eine gemeinsame Einrichtung des DKFZ, des Universitätsklinikums Heidelberg (UKHD) und der Universität Heidelberg (Uni HD) und vom DKFZ), Andreas Trumpp, DKFZ und HI-STEM gGmbH und Thomas Höfer vom DKFZ.
Schnellwachsende Krebszellen benötigen viel Cystein
In der vorliegenden Studie haben die Erstautoren Hamed Alborzinia und Andres Florez herausgefunden, dass Neuroblastomzellen mit hoher MYCN-Aktivität vor allem eines brauchen: die Aminosäure Cystein.
Laut den Fachleuten ist Cystein ein wichtiger Baustein für die meisten zellulären Eiweiße und Fette. Die schnellwachsenden Krebszellen benötigen große Mengen dieser Bausteine, um neue Zellen herzustellen.
Gleichzeitig brauchen die Krebszellen Cystein, um sich vor natürlich entstehenden giftigen Peroxiden zu schützen, welche bedingt durch ihren hochaktiven Stoffwechsel entstehen. „Der Cystein-Hunger von Neuroblastomzellen ist dabei so groß, dass sie gleich zwei Wege nutzen, um sich das Cystein zu beschaffen“, erläutert Sina Kreth, ebenfalls Erstautorin der Studie.
„Sie nutzen den Import der Aminosäure und kurbeln zusätzlich einen alternativen Syntheseweg an, um Cystein aus der Aminosäure Methionin zu gewinnen“, fügt Erstautorin Lena Brückner an.
Krebszellen leiteten Selbstzerstörung ein
Genau diese Anpassungsprozesse machen die Neuroblastomzellen jedoch auch empfindlich. Entzogen die Forschenden ihnen das Cystein, konnten die durch MYCN angetriebenen Tumorzellen die entstehenden giftigen Peroxide nicht mehr inaktivieren und starben durch eine besondere Form des Zelltods, der Ferroptose.
Ob dieser Prozess eine mögliche Achillesferse für eine Therapie gegen bösartige Neuroblastome sein könnte, testete das Team daraufhin in Mäusen.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler drehten den Tumoren ganz gezielt den Hahn ab: Sie blockierten die Cysteinaufnahme, die Cysteinsynthese und schalteten zudem ein Schlüsselenzym aus, welches normalerweise verhindert, dass sich die Krebszelle durch Peroxide vergiftet.
Daraufhin leiteten die Krebszellen ihre eigene Selbstzerstörung durch Ferroptose ein und die Tumoren schrumpften.
„Der Ferroptose-Zelltod wurde erst vor wenigen Jahren entdeckt und die Ergebnisse zeigen nun erstmals nicht nur in Zellkulturen, sondern auch in krebstragenden Mäusen, wie sich dieser Prozess manipulieren lässt, um hochaggressive humane Neuroblastomzellen durch Induktion der Ferroptose abzutöten“, sagt Alborzinia.
Warum einige Neuroblastome wieder verschwinden
Die Ergebnisse liefern auch eine mögliche Erklärung, warum einige Neuroblastome mit moderater MYCN-Aktivität bei Säuglingen und Kleinkindern in einigen Fällen einfach wieder verschwinden:
„Zellen nehmen in den ersten Lebensjahren grundsätzlich weniger Cystein auf. Wenn sie beginnen, sich unkontrolliert zu teilen, gehen ihnen daher bald die Cystein-Reserven aus und der ferroptotische Zelltod wird eingeleitet“, erläutert Florez.
Manche Neuroblastome ohne MYCN-Aktivität können dieser Selbstzerstörung nicht entgehen und sterben dann nach einer gewissen Zeit einfach ab, wenn das Cystein knapp wird.
Für Hochrisikopatientinnen und -patienten mit hoher MYCN-Aktivität liefert die Studie erste Erkenntnisse, wie sich das Gleichgewicht zwischen Cysteinaufnahme, -produktion und -verbrauch möglicherweise so stören ließe, dass auch diese Zellen ihre Selbstzerstörung einleiten.
Ob sich das neu entdeckte Prinzip auch in der Behandlung von Neuroblastom-Patientinnen und -Patienten bewährt, muss jetzt in klinischen Studien getestet werden. (ad)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Deutsches Krebsforschungszentrum: Tumoren auf Entzug: Aminosäuremangel lässt kindliche Tumoren schrumpfen, (Abruf: 02.05.2022), Deutsches Krebsforschungszentrum
- Alborzinia H, Flórez A.F., Kreth S., Brückner L.M. et al.: MYCN mediates cysteine addiction and sensitizes neuroblastoma to ferroptosis; in: Nature Cancer, (veröffentlicht: 28.04.2022), Nature Cancer
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.