Depressionen: Furcht erschwert das Absetzen von Medikamenten
Antidepressiva wirken laut Fachleuten vor allem bei mittelschweren und schweren Depressionen gut. Es gibt verschiedene Formen dieser Medikamente, manche beruhigen eher und verbessern den Schlaf, manche geben mehr Energie. Vielen Betroffenen fällt es aber schwer, solche Präparate wieder abzusetzen. Dies kann unter anderem damit zu tun haben, dass sie Angst vor Rückfällen haben.
Antidepressiva sind wie die Psychotherapie ein wichtiger Baustein der Behandlung von Depressionen, schreibt das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) auf seinem Portal „gesundheitsinformation.de“. Die Medikamente sollen die Beschwerden lindern und Rückfällen vorbeugen. Doch genau vor solchen Rückfällen fürchten sich manche Betroffene, weshalb es ihnen schwer fällt, die Präparate abzusetzen.
Wichtiger Bestandteil der Behandlung von Depressionen
Wie es in einer aktuellen Mitteilung der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen (UDE) heißt, sind Medikamente ein wichtiger Bestandteil der Behandlung von Depressionen. Etwa acht bis zehn Prozent der Deutschen nehmen Antidepressiva.
Die meisten Patientinnen und Patienten könnten diese nach etwa einem Jahr wieder absetzen. Viele haben aber Mühe, davon loszukommen. Mehr als jede dritte Person nimmt solche Präparate länger ein als notwendig. Dies zeigen wissenschaftliche Untersuchungen, wie sie etwa in den „Cochrane Database of Systematic Reviews“ veröffentlicht wurden.
Grund hierfür ist unter anderem eine negative Erwartungshaltung, der sogenannte Nocebo-Effekt, erklärt Ulrike Bingel, Professorin für Klinische Neurowissenschaften an der Universitätsmedizin Essen.
Laut der Expertin sind viele Patientinnen und Patienten „beim Absetzversuch von rasch vorübergehenden Absetzeffekten wie Schlaflosigkeit, Schwindel oder Reizbarkeit betroffen und missverstehen diese als Rückfall.“
Die daraus entstehende Furcht verstärkt die Beschwerden noch, weshalb die Betroffenen den Absetzversuch oftmals abbrechen, statt durchzuhalten, erklärt die Sprecherin des Sonderforschungsbereichs (SFB) 289 „Treatment Expectation“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), der an der Medizinischen Fakultät der UDE koordiniert wird.
Darin untersucht ein interdisziplinäres Forschungsteam in insgesamt 16 Teilprojekten, wie Erwartungen den Behandlungserfolg beeinflussen und wie sich dieser Effekt bei verschiedenen Erkrankungen therapeutisch nutzen lässt.
Erwartungen optimieren und dem Nocebo-Effekt vorbeugen
„Unsere Studienergebnisse weisen darauf hin, dass bessere Aufklärung und das gezielte Wecken positiver Erwartungen helfen können, den unheilvollen Kreislauf beim Absetzen von Antidepressiva zu durchbrechen“, erläutert SFB-Projektleiterin Yvonne Nestoriuc, Professorin für Klinische Psychologie an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg.
Daher plädiert die Wissenschaftlerin für unterstützende psychotherapeutische Elemente, die helfen, Erwartungen beim Antidepressiva-Absetzen zu optimieren und dem Nocebo-Effekt vorzubeugen. Der Nocebo-Effekt ist keine „Einbildung“, sondern in unterschiedlichen medizinischen Studien, wie beispielsweise in einer in der Fachzeitschrift „Frontiers in Psychiatry“ veröffentlichten Arbeit, vielfach nachgewiesen.
Im Gegensatz zur positiven Wirkung beim Placebo-Effekt (lateinisch „Ich werde gefallen“) sorgt beim Nocebo-Effekt (lateinisch „Ich werde schaden“) allein die Erwartung negativer Folgen dafür, dass Prozesse im zentralen Nervensystem angestoßen werden, die zu körperlichen Veränderungen führen.
Unerwünschte Nebenwirkungen
Prof. Nestoriuc betont, dass es ein Missstand ist, dass viele Patientinnen und Patienten Antidepressiva viel zu lange einnehmen. Unerwünschte Nebenwirkungen durch eine nicht mehr indizierte Einnahme seien eine Belastung für die Betroffenen.
Solche Präparate sind nur in seltenen Fällen als lebenslange Therapie sinnvoll, denn sie können zu Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme, sexuellen Problemen sowie einem erhöhten Risiko für Herzrhythmusstörungen führen.
Als medizinische Empfehlung gilt: Verbessern sich nach etwa vier Wochen, in denen Antidepressiva ihre volle Wirksamkeit entfalten, die depressiven Symptome, sollte das Medikament noch etwa vier bis neun weitere Monate eingenommen werden, bei mehrfach depressiven Episoden weitere zwei Jahre.
Wenn dann immer noch weitgehende Symptomfreiheit herrscht, sollte ein Absetzversuch erfolgen. Dabei können vorübergehende Beschwerden wie zum Beispiel Schwindel, Schlaflosigkeit, Schwäche, Reizbarkeit, Übelkeit, Schmerzen auftreten – sie gleichen den Symptomen einer Depression, was bei Patientinnen und Patienten die Angst vor einem Rückfall auslösen und zu einem Abbruch des Absetzversuchs führen kann.
„Um zwischen Rückfall und Absetzproblematik zu unterscheiden, ist eine intensive ärztliche Begleitung notwendig“, sagt Prof. Nestoriuc. Diese muss auch den Nocebo-Effekt berücksichtigen und die Patientinnen und Patienten darüber aufklären, betont die Psychologin. (ad)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Medizinische Fakultät der Universität Duisburg-Essen: Angst vor Rückfällen erschwert das Absetzen von Antidepressiva – Therapie durch positive Erwartung, (Abruf: 24.05.2022), Medizinische Fakultät der Universität Duisburg-Essen
- Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen: Wie wirksam sind Antidepressiva?, (Abruf: 24.05.2022), gesundheitsinformation.de
- Ellen Van Leeuwen, Mieke L van Driel, Mark A Horowitz, Tony Kendrick, Maria Donald, An Im De Sutter, Lindsay Robertson, Thierry Christiaens: Approaches for discontinuation versus continuation of long-term antidepressant use for depressive and anxiety disorders in adults; in: Cochrane Database of Systematic Reviews, (veröffentlicht: 15.04.2021), Cochrane Database of Systematic Reviews
- Yiqi Pan, Timm Kinitz, Marin Stapic & Yvonne Nestoriuc: Minimizing Drug Adverse Events by Informing About the Nocebo Effect—An Experimental Study; in: Frontiers in Psychiatry, (veröffentlicht: 25.07.2019), Frontiers in Psychiatry
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.