Sehkraft im Alter: Kann AMD aufgehalten werden?
Rund ein Viertel aller Menschen über 60 Jahre leidet an einer sogenannten Makuladegeneration (AMD), die bei fortschreitendem Verlauf zu schweren Sehbehinderungen und Sehverlust führt. Ein deutsches Forschungsteam identifizierte nun eine bislang unbekannte Ursache für diese weit verbreite Augenerkrankung.
Forschende des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen e.V. (DZNE) haben einen neuen potentiellen Mechanismus für altersbedingten Sehverlust entdeckt. Die Ergebnisse, die kürzlich in dem renommierten Fachjournal „Nature Communications“ vorgestellt wurden, legen nahe, dass Netzhaut-Zellen nicht einfach wie bislang gedacht absterben, sondern durch eine sogenannte Zell-Extrusion aus dem Gewebe befördert werden.
Was passiert bei AMD?
AMD ist die Hauptursache für Erblindung und schwere Sehbehinderung in Deutschland. Etwa jede vierte Person im Alter über 60 Jahren ist von AMD betroffen. Besonders die Makula wird durch die Erkrankung in Mitleidenschaft gezogen.
Die Makula ist unter anderem für das Sehen von Farben verantwortlich und bei AMD verliert sie tausende von lichtempfindlichen Sehzellen, die als Photorezeptoren bezeichnet werden.
Forschungsergebnisse werfen neues Licht auf die Ursachen
Die Erkenntnisse der aktuellen Studie werfen ein neues Licht auf die altersbedingte Makuladegeneration. Wie die Arbeitsgruppe herausfand, sterben Sehzellen in der menschlichen Netzhaut möglicherweise nicht einfach ab, sondern werden zuvor mechanisch aus dem Gewebe befördert.
Der als Zell-Extrusion bezeichnete Prozess stellt einen neuen und bislang unbekannten potentiellen Mechanismus für neurodegenerative Erkrankungen der Netzhaut dar.
Organoide ermöglichten tiefere Einblicke
Im Rahmen der Studie nutze das Team sogenannte Organoide, also aus menschlichen Zellen gezüchtete Mini-Netzhäute, an denen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Untersuchungen durchführen konnten.
Photorezeptoren wurden aus der Netzhaut verstoßen
„Dieses Prinzip, das als Zell-Extrusion bezeichnet wird, wurde bislang noch nicht bei neurodegenerativen Erkrankungen untersucht“, betont Forschungsleiter Professor Dr. Mike Karl.
„Wir haben beobachtet, dass Photorezeptoren verloren gehen, konnten aber in der Netzhaut keinen Zelltod feststellen“, so Professor Karl.
Ihm zufolge sind die Hälfte aller Photorezeptoren innerhalb von zehn Tagen aus dem Netzhaut-Organoid verschwunden. Die Zellen seien aber nicht, wie bislang gedacht, in der Netzhaut gestorben.
Zell-Extrusion wurde erst im Jahr 2012 entdeckt
Bei Nachforschungen zu diesen Beobachtungen stieß das Team auf eine Studie vom King’s College in London aus dem Jahr 2012. Das Forschungsteam um Jody Rosenblatt beschrieb dort zum ersten Mal einen Prozess, bei dem lebende Zellen mechanisch aus einem Nierengewebe verstoßen werden.
Die Arbeitsgruppe um Karl wies nun erstmals nach, dass dieser Prozess auch bei der Degeneration der Makula abläuft. Bereits in früheren Studien fanden Forschende bei AMD-Betroffenen Netzhautzellen außerhalb der Netzhaut. Die Ursache für diese Entdeckung konnte bislang jedoch nicht aufgeklärt werden.
Biomechanik als Treiber der Netzhaut-Degeneration
Insgesamt deuten die Studienergebnisse darauf hin, dass die Biomechanik eine größere Rolle bei der Degeneration der Netzhaut spielt, als bislang gedacht.
„Die Netzhaut ist nicht als biomechanisch aktives Gewebe wie etwa ein Muskel bekannt“, gibt der Forschungsleiter zu bedenken. „Man wusste, dass Erkrankungen im Nervensystem mit Formveränderungen von Zellen einhergehen, aber inwieweit sie von biomechanischen Kräften reguliert werden, wurde bislang noch nicht untersucht“, so Karl.
Nachweis am menschlichen Auge steht noch aus
Da die Untersuchung an Organoiden und nicht an Menschen durchgeführt wurde, steht der Beweis noch aus, ob beim menschlichen Auge tatsächlich der gleiche Mechanismus abläuft. Erste Versuche in dieser Richtung legen eine Übereinstimmung nahe. In einer kommenden Studie soll dies nun genauer untersucht werden.
AMD könnte in Zukunft behandelbar werden
Die Erkenntnisse offenbaren neue Ansätze, um die altersbedingte Degeneration der Augen zu stoppen. Beispielsweise sorgt eine experimentelle Substanz aus einem Schlangengift dafür, dass spezielle Rezeptoren in den Netzhautzellen blockiert werden, woraufhin die Zellen nicht mehr ausgestoßen werden können.
„Das macht Hoffnung auf die Entwicklung künftiger präventiver und therapeutischer Behandlungen für komplexe neurodegenerative Erkrankungen wie der AMD“, resümiert Professor Karl. (vb)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- DZNE: Neuer potentieller Mechanismus für Sehverlust entdeckt (veröffentlicht: 30.11.2022), dzne.de
- Völkner, M., Wagner, F., Steinheuer, L.M. et al. HBEGF-TNF induce a complex outer retinal pathology with photoreceptor cell extrusion in human organoids; in: Nature Communications 13, 6183 (2022). https://doi.org/10.1038/s41467-022-33848-y, nature.com
- Eisenhoffer, G., Loftus, P., Yoshigi, M. et al. Crowding induces live cell extrusion to maintain homeostatic cell numbers in epithelia. Nature 484, 546–549 (2012). https://doi.org/10.1038/nature10999, nature.com
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