Warum Darmbakterien vom Immunsystem toleriert werden
Im Darm können sich sowohl nützliche als auch schädliche Mikroorganismen ansiedeln. Diese Kleinstlebewesen können die Gesundheit des Menschen erheblich beeinflussen. Unklar war bislang jedoch, warum manche Darmbakterien vom Immunsystem akzeptiert und andere als Krankheitserreger wahrgenommen werden. Ein internationales Forschungsteam löste dieses Rätsel nun.
Forschende des Max-Planck-Institut für Biologie Tübingen haben eine seit langem offene Frage über die Interaktion zwischen Darmbakterien und dem Immunsystem beantwortet. Das Team fand heraus, warum bestimmte Darmbakterien vom Immunsystem toleriert und andere angegriffen werden. Die Ergebnisse wurden kürzlich in dem Fachjournal „Science Immunology“ vorgestellt.
Wie das Immunsystem Bakterien wahrnimmt
Um Krankheitserreger bekämpfen zu können, muss das Immunsystem zunächst die Anwesenheit mikrobieller Produkte über verschiedene Rezeptoren erkennen. Ein wichtiger Rezeptor ist in diesem Zusammenhang der sogenannten Toll-like-Rezeptor 5 (TLR5). Dieser bindet sich an Flagellin – das Protein aus dem die Geißel der Bakterien bestehen, also die fadenförmigen Auswüchse, mit denen sich viele Bakterien fortbewegen.
Flagellin hat mehr Varianten als gedacht
Doch nicht jedes Bakterium, das Flagellin produziert, ist automatisch ein Krankheitserreger. Viele harmlose und nützliche Bakterien im Darm besitzen ebenfalls Geißel aus Flagellin, ohne dass sie von Immunzellen angegriffen werden. Dies war für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bislang ein Rätsel: Wie können Flagellin-produzierende Bakterien einen Angriff von Immunzellen verhindern?
In früheren Studien wurde bereits erkannt, dass einige nützliche Darmbakterien eine Flagellin-Variante bilden, die nicht an Immunzellen binden kann. Dies beantwortet die Frage aber nur zum Teil, da es auch andere Beispiele gibt, bei denen Darmbakterien intakte Bindestellen aufweisen und trotzdem keine Immunreaktion provozieren.
Die internationale Arbeitsgruppe unter Leitung des Max-Planck-Instituts für Biologie Tübingen hat hierfür nun eine Erklärung gefunden. Das Team untersuchte 116 verschiedene Flagelline auf TLR5-Aktivierung und TLR5-Bindung. Dabei stellten die Forschenden fest, dass rund die Hälfte der untersuchten Proteine nicht mit bisher beschriebenen Flagellinen vergleichbar war.
„Stummes Flagellin“ entdeckt
Zwar zeigten die Flagelline der harmlosen Darmbakterien ähnlich starke Bindungen an TLR5 wie die Flagelline von Krankheitserregern, lösten durch die Bindung aber keine Entzündungsreaktion aus. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bezeichnen die neu entdeckten Flagellin-Varianten daher als „stummes Flagellin“.
Grundlegende Erkenntnis zur Immunreaktion gegen Bakterien
Dies erweitert den Wissensstand über die Interaktion zwischen Bakterien und dem Immunsystem. Bislang wurde davon ausgegangen, dass eine Bindung von Flagellinen an TLR5 ausreicht, um eine Immunreaktion auszulösen.
„Wir wissen jetzt, dass bakterielles Flagellin auf mindestens drei verschiedene Arten mit TLR5 interagieren kann: es kann binden und eine Immunreaktion auslösen, binden ohne eine Immunreaktion auszulösen, oder aber die Immunreaktion vermeiden, indem sie nicht binden“, fasst Studienleiterin Ruth Ley zusammen. Die Arbeit hebt ihr zufolge besonders bemerkenswert hervor, wie regulierbar die Reaktion des TLR5-Rezeptors ist.
Ein wesentlicher aber bislang nicht beachteter Faktor
Bei weiteren Analysen von Darmbakterien konnte das Team auch zeigen, dass stumme Flagelline im menschlichen Darm sehr häufig vorkommen. Daher handele es sich höchstwahrscheinlich um einen wesentlichen, aber bisher nicht beachteten Faktor bei der Interaktion zwischen Darmbakterien und dem Immunsystem.
Neue Forschungsreize für Krebs und Darmkrankheiten
Der Rezeptor TLR5 ist an vielen Darmkrankheiten beteiligt und spielt nach Angaben der Arbeitsgruppe auch bei Krebs und Neuropathie eine Rolle. Die Studienergebnisse liefern einen tieferen Einblick in die Mechanismen der TLR5-Aktivierung und könnten daher zu einem besseren Verständnis von Krankheiten beitragen, an denen dieser Rezeptor beteiligt ist. (vb)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Max-Planck-Institut für Biologie Tübingen: Wie Darmbakterien das Immunsystem austricksen (veröffentlicht: 06.01.2023), tuebingen.mpg.de
- Sara Clasen, Ruth Ley, et al.: Evading the Toll booth: How “silent” flagellins may bind yet fail to activate TLR5; in: Science Immunology (2023), science.org
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.