Neue Erkenntnisse zur Anatomie des Verdauungstrakts
Oft wird davon ausgegangen, dass die Anatomie der inneren Organe bei den meisten gesunden Menschen gleich ausfällt – selbstverständlich immer in Proportion zu ihrer Körpergröße. Bei den Verdauungsorganen ist dies laut einer aktuellen Studie jedoch keineswegs der Fall. Hier sind erhebliche individuelle Unterschiede feststellbar, die starke Auswirkungen auf die Gesundheit haben können.
Ein US-Forschungsteam von der North Carolina State University, der Duke University School of Medicine und der University of Minnesota hat die Unterschiede in der Anatomie der Verdauungsorgane untersucht und dabei eine extrem hohe Variabilität festgestellt. Die entsprechenden Studienergebnisse sind in de Open-Access-Zeitschrift „PeerJ“ veröffentlicht.
Unterschiede bisher weitgehend ignoriert
„Vor mehr als einem Jahrhundert gab es Forschungen, die Unterschiede in der relativen Länge des menschlichen Darms feststellten, aber dieser Bereich wurde seither weitgehend ignoriert“, berichtet die Studienautorin Amanda Hale von der North Carolina State University. Seit 1885 seien hier kaum neue Erkenntnisse gewonnen worden.
Anhand der sterblichen Überreste von 45 Personen (21 Frauen, 24 Männer) hat das Forschungsteam daher nun die Unterschiede der Verdauungsorgane analysiert. „Als wir begannen, diese Frage zu untersuchen, waren wir erstaunt über das Ausmaß der Variabilität, die wir vorfanden“, betont Hale.
Große individuelle Unterschiede
„Wenn man sich mit vier verschiedenen Menschen unterhält, stehen die Chancen gut, dass jeder von ihnen einen anderen Darm hat, was die relative Größe der Organe angeht, aus denen dieses System besteht“, ergänzt Studienautorin Erin McKenney von der North Carolina State University.
Beispielsweise könne der Blinddarm bei einer Person „nur wenige Zentimeter lang sein, während er bei einer anderen die Größe eines Geldbeutels hat. Und eine ähnliche Variabilität fanden wir bei vielen Verdauungsorganen“, so McKenney.
Auffällig sei auch gewesen, dass Frauen tendenziell einen längeren Dünndarm haben als Männer, wobei ein längerer Dünndarm Nährstoffe aus der Nahrung besser extrahieren könne.
Weiterhin konnten die Forschenden Zusammenhänge zwischen der Größe verschiedener Organe bei den einzelnen Personen feststellen. So fanden sie zum Beispiel eine signifikante Korrelation zwischen dem Volumen der Leber und der Länge des Blinddarms sowie des Dickdarms.
Auswirkungen auf die Gesundheit
Nach Einschätzung der Forschenden sind die gewonnen Erkenntnisse wichtig für das Verständnis der gesundheitlichen Auswirkungen, die die Unterschiede in der Anatomie des Verdauungstrakts haben können, was auch medizinische Diagnosen und das mikrobielle Ökosystem des Darms (Darmflora) betreffe.
„Angesichts der Tatsache, dass die Anatomie des menschlichen Darms stärker variiert, als wir dachten, könnte dies unser Verständnis der Ursachen für eine Reihe von Gesundheitsproblemen und deren Behandlung verbessern“, hofft McKenney.
Anatomische Variationen und individualisierte Medizin
Die festgestellte Variabilität bei der Anatomie der Verdauungsorgane werfe nun eine Reihe von Forschungsfragen auf, die in weiteren Studien untersucht werden müssen. Zudem sollte den möglichen anatomischen Variationen auch im Medizinstudium wieder mehr Bedeutung zukommen, fordern die Forschenden.
„Das ist besonders wichtig für die medizinische Ausbildung, denn wenn Studenten nur eine ‘normale’ oder ‘durchschnittliche’ Anatomie lernen, bedeutet das, dass sie nicht mit der Bandbreite menschlicher Variationen vertraut sein werden“, so die Studienautorin Roxanne Larsen von der University of Minnesota.
Es werde immer deutlicher, dass die Zukunft in einer individualisierten Medizin liegt, und das Verständnis anatomischer Variationen könne eine entscheidende Rolle dabei spielen, die Bedeutung der individualisierten Medizin zu vermitteln. Die aktuelle Studie zeige, wie wenig wir bisher tatsächlich über unseren eigenen Körper wissen, ergänzt Amanda Hale. (fp)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Erin A. McKenney, Amanda R. Hale, Janiaya Anderson, Roxanne Larsen, Colleen Grant, Robert R. Dunn: Hidden diversity: comparative functional morphology of humans and other species; in: PeerJ (veröffentlicht 24.04.2023), peerj.com
- North Carolina State University: Study finds significant variation in anatomy of human guts (veröffentlicht 24.04.2023), eurekalert.org
Wichtiger Hinweis:
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