Bei Alzheimer entwickeln rund zehn Prozent der Betroffenen lange im Vorfeld der typischen Krankheitssymptome auffällige Sehstörungen in Form einer sogenannten posterioren kortikalen Atrophie. Diese Erkenntnis könnte eine deutlich frühzeitigere Diagnose ermöglichen und zudem scheinen bestimmte Therapieansätze für die Betroffenen besonders geeignet.
Ein internationales Forschungsteam um Dr. Marianne Chapleau vom Memory and Aging Center an der University of California San Francisco (UCSF) hat in einer Übersichtsarbeit die Zusammenhänge zwischen der posterioren kortikalen Atrophie und Alzheimer-Erkrankungen unter anderem auf Basis von Biomarkern, klinischen Symptomen und neuropathologischen Faktoren bewertet. Die Ergebnisse sind in dem Fachmagazin „The Lancet Neuroloy“ veröffentlicht.
Gestörte visuell-räumliche Wahrnehmung
Eine posteriore kortikale Atrophie ist gekennzeichnet durch Störungen der visuell-räumlichen Wahrnehmung und wurde bereits in früheren Studien mit neuropathologischen Merkmalen der Alzheimer-Krankheit in Verbindung gebracht, erläutern die Forschenden.
Bei einer posterioren kortikalen Atrophie haben Betroffene Schwierigkeiten, Entfernungen einzuschätzen, zwischen bewegten und unbewegten Objekten zu unterscheiden und Aufgaben wie Schreiben oder das Auffinden eines heruntergefallenen Gegenstandes zu bewältigen – trotz ansonsten normaler Sehkraft, so Dr. Chapleau.
Zusammenhänge mit Alzheimer untersucht
Um die möglichen Zusammenhänge zwischen der posterioren kortikalen Atrophie und Alzheimer konkret zu bewerten, hat das Forschungsteam die bisher hierzu veröffentlichten Forschungsarbeiten ermittelt und die korrespondierenden Autorinnen bzw. Autoren oder die Leitung der entsprechenden Forschungszentren kontaktiert.
So erhielten sie die individuellen Daten (veröffentlicht und unveröffentlicht) von 1.092 Personen aus 36 Forschungszentren in 16 Ländern weltweit. Einschlusskriterien waren eine Diagnose der posterioren kortikalen Atrophie und die Verfügbarkeit von Alzheimer-Biomarkern.
Die Forschenden erfassten demografische, klinische und neuropathologische Daten, werten Liquoruntersuchungen und Aufnahmen des sogenannten Neuroimaging aus.
94 Prozent entwickelten Alzheimer
Dabei wurde deutlich, dass die meisten Teilnehmenden mit posteriorer kortikaler Atrophie anfangs noch normale kognitive Fähigkeiten hatten, aber im weiteren Verlauf entwickelten 94 Prozent eine Alzheimer-Pathologie und die restlichen sechs Prozent andere Formen einer Demenz, berichtet das Team.
Den Forschenden zufolge stimmten bei den Betroffenen außerdem die Amyloid- und Tau-Werte, die in der Liquorflüssigkeit und in bildgebenden Verfahren sowie in Autopsiedaten festgestellt wurden, mit denen typischer Alzheimer-Fälle überein.
Im Durchschnitt habe sich 3,8 Jahre nach Auftreten der visuellen Symptome eine leichte oder mittelschwere Demenz mit Defiziten in den Bereichen Gedächtnis, Exekutivfunktion, Verhalten sowie Sprache und Sprechen entwickelt, so die Fachleute weiter.
Hoffnung auf verbesserte Behandlung
Insgesamt sei deutlich geworden, dass die posteriore kortikale Atrophie eine frühe Form der Demenz bilden kann, die sehr spezifisch für die zugrunde liegende Alzheimer-Pathologie ist. So könnte die frühzeitige Erkennung der posterioren kortikalen Atrophie laut den Forschenden auch wesentliche Verbesserungen der Alzheimer-Behandlung ermöglichen.
Gegebenenfalls biete sich für die Betroffenen eine Anti-Amyloid-Therapie (beispielsweise mit Lecanemab, im Januar 2023 von der US-Arzneimittelbehörde FDA zugelassen) oder eine Anti-Tau-Therapie (derzeit in der klinischen Erprobung) an, denn von diesen werde angenommen, dass sie in den frühesten Phasen der Krankheit effektiver sind.
Zudem zeigen Betroffene mit posteriorer kortikaler Atrophie mehr Tau-Pathologie in den hinteren Teilen des Gehirns, die an der Verarbeitung visuell-räumlicher Informationen beteiligt sind, was sie für Anti-Tau-Therapien besser geeignet machen könnte, so der Co-Erstautor Dr. Renaud La Joie vom Memory and Aging Center der UCSF.
Posteriore kortikale Atrophie besser verstehen
Laut Dr. Chapleau ist dringend ein größeres Bewusstsein für die posteriore kortikale Atrophie erforderlich und es bedürfte besserer Instrumente im klinischen Umfeld, um Betroffene frühzeitig zu erkennen und sie behandeln zu können.
Die Meisten suchen vermutlich eine Augenarztpraxis auf, wenn sie erste Sehstörungen bemerken und gegebenenfalls wird dort die posteriore kortikale Atrophie nicht als solche erkannt, berichtet die Expertin.
Hier ist ein besseres Verständnis der posterioren kortikalen Atrophie sowohl für die Patientenversorgung als auch für das Verständnis der Prozesse, die der Alzheimer-Krankheit zugrunde liegen, von entscheidender Bedeutung, ergänzt Dr. Gil Rabinovici, Direktor des UCSF Alzheimer’s Disease Research Center.
„Aus wissenschaftlicher Sicht müssen wir wirklich verstehen, warum die Alzheimer-Krankheit speziell die visuellen Bereiche des Gehirns angreift und nicht das Gedächtnis“, so Dr. Rabinovici. Hier seien nun dringend weitere Studien erforderlich. (fp)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Marianne Chapleau, Renaud La Joie, Keir Yong, Federica Agosta, Isabel Elaine Allen, Prof. Liana Apostolova, John Best, Baayla D. C. Boon, Sebastian Crutch, Prof. Massimo Filippi, Giorgio Giulio Fumagalli, Daniela Galimberti, Jonathan Graff-Radford, Prof. Lea T. Grinberg, Prof. David J. Irwin, Prof. Keith A. Josephs, Prof Mario F. Mendez, Patricio Chrem Mendez, Raffaella Migliaccio, Zachary A. Miller, Maxime Montembeault, Melissa E Murray, Sára Nemes, Prof. Victoria Pelak, Prof. Daniela Perani, Jeffrey Phillips, Prof. Yolande Pijnenburg, Emily Rogalski, Prof. Jonathan M. Schott, Prof. William Seeley, A. Campbell Sullivan, Salvatore Spina, Jeremy Tanner, Jamie Walker, Jennifer L Whitwell, Prof. David A. Wolk, Rik Ossenkoppele, Prof. Gil D. Rabinovici: Demographic, clinical, biomarker, and neuropathological correlates of posterior cortical atrophy: an international cohort study and individual participant data meta-analysis; in: The Lancet Neurology (veröffentlicht 22.02.2024), thelancet.com
- University of California - San Francisco: Could bizarre visual symptoms be a telltale sign of Alzheimer's? (veröffentlicht 22.01.2024), ucsf.edu
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.