Vor wenigen Wochen erlitt in Frankreich ein Mann einen Hirntod nach einem Medikamententest. Vier weitere Probanden litten infolge der Versuche an neurologischen Beschwerden und werden auch heute noch medizinisch betreut. Die Hintergründe des Falls sind bislang jedoch immer noch nicht vollständig aufgeklärt. Ein Betroffener hat nun im Gespräch mit der der Regionalzeitung „Le Maine Libre“ von den Folgen des Versuchs berichtet.
Wirkstoff versprach vielfältige Anwendungsmöglichkeiten
Erst wenige Wochen zuvor kam es Frankreich zu einem schweren Zwischenfall bei einer klinischen Studie. Ein Freiwilliger erlitt nach der Einnahme eines experimentellen Medikaments einen Hirntod, vier weitere Probanden wurden schwer verletzt. Laut den damaligen Angaben der französischen Gesundheitsministerin Marisol Touraine handelte es sich bei den Opfern um Männer, die das Medikament mehrfach zu sich genommen hatten. Der Wirkstoff BIA 10-2474 schien zuvor äußerst vielversprechend, da er unter anderem gegen Angststörungen, Parkinson, chronische Schmerzen und Krebs helfen sollte. Insgesamt 90 Freiwillige hatten die Substanz erhalten, welche vom portugiesischen Pharmahersteller Bial entwickelt wurde. Das Unternehmen Biotrial führte den Test in Rennes (Bretagne) durch.
Hintergründe immer noch nicht geklärt
Doch die Umstände für den schweren Zwischenfall sind bislang nicht geklärt, dementsprechend wächst der Druck auf die französischen Behörden und den Pharma-Herstellers Bial. Wie die Nachrichtenagentur „dpa“ berichtet, habe der Biotrial Chef François Peaucelle gegenüber dem französischen Radiosender RTL erklärt, dass die vier verletzten Männer inzwischen wieder zu Hause seien. Diese hatten durch die Tests neurologische Störungen davon getragen und würden auch weiterhin medizinisch betreut und regelmäßig untersucht. Einige würden sich laut François Peaucelle in der Reha befinden, doch Prognosen über mögliche Langzeitfolgen könnten noch nicht getroffen werden. Ein weiterer Teilnehmer habe zwar keine Symptome gezeigt, sei aber vorsorglich ins Krankenhaus eingeliefert worden, so der Bericht weiter.
Winzige Gewebeverletzungen im Gehirn
Wie aus einer Stellungnahme eines wissenschaftlichen Komitees der Arzneimittelaufsicht ANSM hervor geht, sei es bei den Tests im Gehirn der Betroffenen zu winzigen Gewebeverletzungen gekommen, berichtet die „dpa“. Diese würden sich „an der Schädelbasis“ befinden, so der Behördenchef Dominique Martin gegenüber der Zeitung „Le Figaro“ – alles weitere unterliege Martin zufolge jedoch der ärztlichen Schweigepflicht. Doch wie konnte es zu solch heftigen Folgen kommen? Da die Qualität des Produkts laut dem ANSM-Komitee den Anforderungen entsprach, kommt eine Verunreinigung offenbar nicht in Betracht.
Probleme nur in der Gruppe mit hoher Dosierung
Vermutet wird hingegen ein so genannter „Schwelleneffekt“, welcher dazu geführt haben könnte, dass die Nebenwirkungen erst ab einer gewissen Dosierung auftraten. Denn 84 Menschen hatten den Enzymhemmer BIA 10-2474 zuvor eingenommen, ohne dass es hinterher Schwierigkeiten gab. Knapp 50 von ihnen bekamen das Medikament je ein Mal in einer Dosis von bis zu 100 Milligramm. Anschließend erhielten die Teilnehmer gruppenweise zehn Tage lang eine tägliche Dosis des Wirkstoffs. Während die Gruppe mit 20mg am Tag noch keine Probleme hatte, kam es bei der Gruppe mit 50 Milligramm schließlich zu den massiven Folgen, so die Angaben des Komitees.
Grobe Versäumnisse seitens des Labors
Daher stünden den Experten nach zwei Hypothesen im Raum. Erstens könnte die Wirkung der Substanz möglicherweise über die reine Hemmung des Enzyms FAAH (Fatty Acid Amide Hydrolase) hinausgehen. Neben dem könne auch ein Abbauprodukt (Metabolit) des Wirkstoffs für die schweren Folgen verantwortlich sein. Nun müssten jedoch weitere Untersuchungen folgen, deren Ergebnisse für Ende März angekündigt wurden. Aus Sicht der französischen Behörden habe es seitens des Labor Biotrials mehrere bedeutende Versäumnisse gegeben. So hätten sich die Verantwortlichen z.B. nicht ausreichend über den Verlauf des Gesundheitszustand des ersten Betroffenen informiert, welcher am fünften Versuchstag in die Klinik eingeliefert worden war. In der Folge hattem die übrigen Freiwilligen am nächsten Tag noch eine weitere Dosis erhalten, erst am Nachmittag wurde das Experiment schließlich beendet.
Auch habe Biotrial die anderen Probanden nicht über den Vorfall informiert und erst spät Meldung an die Behörden gegeben, so die Nachrichtenagentur weiter. Demnach habe Biotrial Chef Peaucelle gegenüber der „Zeit“ angegeben, dass der Zustand des ersten Probanden anfangs nicht alarmierend gewesen sei. „Bis Dienstag (dem Tag nach der Unterbrechung) herrschte bei uns noch keine Krisenstimmung. Das änderte sich schlagartig am Mittwochmorgen, als wir von den Symptomen der anderen Patienten erfuhren“, wird Peaucelle zitiert.
Mehrere Hunde zuvor in Tierversuchen gestorben
Kritik gibt es auch, weil bestimmte Dokumente zu der Untersuchung nicht an die Öffentlichkeit gegeben werden. Wie die Arzneimittelaufsicht ANSM berichtet, sollten eigentlich zwei weitere Schriftstücke ins Internet gelangen, doch dem habe der Hersteller Bial nicht zugestimmt. „Wir haben alle Informationen gegeben, die wir geben konnten. Es gibt nun mal gewerbliches Eigentum“, so ANSM-Chef Martin. Besonders pikant ist, dass in den besagten Dokumenten offenbar auch Informationen zu vorherigen Tierversuchen mit dem Wirkstoff enthalten sind. Doch auch so kommen immer mehr Informationen zu Tage, bekannt ist mittlerweile auch, dass bei den Tier-Experimenten mehrere Hunde starben. Dies sei jedoch laut der ANSM „nicht ungewöhnlich“, da zur Überprüfung von Toleranzgrenzen in diesen Versuchen bewusst sehr hohe Dosen eingesetzt würden. Wie die „dpa“ weiter berichtet, habe Bial der portugiesischen Wochenzeitung „Expresso“ mitgeteilt, dass die Tiere „aufgrund von Lungenverletzungen gestorben“ seien, weswegen „jeder direkte Zusammenhang“ mit den Problemen ausgeschlossen werde könne.
Betroffener leidet noch nach Wochen unter Schwindel und Sehstörungen
Nun bleibt also aufzuklären, wodurch es tatsächlich zu dem schwerwiegenden Zwischenfall kam. Zudem sollte angesichts der Ereignisse aus Expertensicht generell über den Umgang mit Daten nach einem Unfall nachgedacht werden. „Das Geschäftsgeheimnis ist ein gültiges Prinzip, das aber vor dem Allgemeininteresse zurücktritt“, sagte Stephen Senn, Leiter einer Arbeitsgruppe der Royal Statistical Society zu klinischen Studien gegenüber dem „Figaro“. „Es ist notwendig, dass die Daten von allen diskutiert werden können“, wird der Experte weiter von der „dpa“ zitiert.
Auch ein Betroffener meldete sich nun zu Wort und berichtete der Regionalzeitung „Le Maine Libre“ von seinem Leben nach dem Experiment. „Ich habe immer noch Schwindelgefühle und Unwohlsein, wenn ich mehr als zehn Minuten stehe. Ich sehe weiter doppelt“, erklärte der 42-jährige. Seine Ärzte würden auf eine Besserung im Laufe des Jahres hoffen, doch „sie sind nicht sicher“, so der Mann weiter. (nr)
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