Arbeitnehmer soll Krankheitsdiagnosen nicht offenlegen müssen
Stuttgart (jur). Arbeitnehmer und ihre Ärzte sollen in einem Streit um die Entgeltfortzahlung nicht mehr die Diagnose der Erkrankung offenlegen müssen. Nach einem am Freitag, 8. Juli 2016, veröffentlichten Urteil des Landesarbeitsgerichts (LAG) Baden-Württemberg in Stuttgart müssen Arbeitgeber der Einschätzung der Krankenkassen vertrauen, dass eine Arbeitsunfähigkeit auf einer Ersterkrankung beruht, die den Arbeitgeber zur Lohnfortzahlung verpflichtet (Az.: 4 Sa 70/15). Damit widersprach das LAG der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) in Erfurt, wonach Arbeitnehmer gegebenenfalls gezwungen sind, ihre Ärzte von der Schweigepflicht zu befreien.
Die Klägerin war als Gruppenleiterin angestellt. Vom 22 September 2014 bis 3. März 2015 war sie insgesamt 65 Tage krank – deutlich mehr als jeden zweiten Arbeitstag. Hierfür legte sie 14 ärztliche Bescheinigungen vor. Dabei handelte es sich überwiegend um sogenannte Erstbescheinigungen, also um die Bescheinigung einer neuen Krankheit. Nur zuletzt, für die Zeit vom 5. Februar bis 3. März 2015, legte sie nach der Erstbescheinigung fünf Folgebescheinigungen für dieselbe Erkrankung vor.
Als die Frau vom 19. März bis 17. April 2015 erneut krank war, weigerte sich der Arbeitgeber, Entgeltfortzahlung zu leisten. Es sei davon auszugehen, dass es sich um eine Fortsetzungserkrankung handelt und der sechswöchige Lohnfortzahlungsanspruch für die zugrundeliegende Krankheit bereits erfüllt sei.
Als Fortsetzungserkrankung gilt eine Arbeitsunfähigkeit, die auf demselben Grundleiden beruht. Dabei ist es egal, ob sich das Grundleiden wieder in seinen ursprünglichen oder in neuen Symptomen äußert. Tritt eine solche Fortsetzungserkrankung nach weniger als sechs Monaten auf, so werden beide oder auch mehrere Arbeitsunfähigkeiten zusammengelegt und die Entgeltfortzahlung bleibt auf insgesamt sechs Wochen beschränkt.
Allerdings enthält die Arbeitgeberkopie einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung keine Angaben über die Diagnose. Die Krankenkasse erhält diese Angaben aber. Auf Nachfrage teilte sie hier dem Arbeitgeber mit, dass für die Arbeitsunfähigkeit ab 19. März 2015 keine anrechenbaren Vorerkrankungen bestanden.
Dennoch verweigerte der Arbeitgeber die Entgeltfortzahlung. Die Ärzte hätten die Frau wohl nicht richtig untersucht oder hätten irrtümlich verkannt, dass es sich um eine Fortsetzungserkrankung handelt. Daher müsse die Gruppenleiterin die Diagnosen ihrer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen offenlegen, damit er dies überprüfen könne.
Die Gruppenleiterin entband ihre Ärzte teilweise von der Schweigepflicht, so dass sie bescheinigen konnten, dass die neue Erkrankung nicht auf einem der früheren Grundleiden beruht. Die konkreten Diagnosen erhielt der Arbeitgeber aber nicht.
Wie schon das Arbeitsgericht Reutlingen entschied nun auch das LAG Stuttgart, dass er dennoch zur Lohnfortzahlung verpflichtet ist.
Beide Gerichte stellten sich damit gegen die Rechtsprechung des BAG. Dies hatte 2005 seine zuvor ebenfalls arbeitnehmerfreundliche Rechtsprechung aufgegeben. Nach dem neuen Urteil muss der Arbeitnehmer aber seine Ärzte von der Schweigepflicht befreien, wenn er nach sechs Krankheitswochen seinen weiteren Anspruch auf Entgeltfortzahlung retten will (Urteil vom 13. Juli 2005, Az.: 5 AZR 389/04).
Das LAG Stuttgart hält dies für widersprüchlich. Es will diese Rechtsprechung daher beenden und zu der früheren arbeitnehmerfreundlichen Rechtsprechung zurückkehren.
Zur Begründung verwiesen die Stuttgarter Richter auf Fälle, in denen die Krankenkasse Krankengeld gezahlt hat. Wenn dennoch Anspruch auf Entgeltfortzahlung bestand, geht dieser Anspruch insoweit auf die Krankenkasse über. Dabei darf die Krankenkasse die Diagnosen aber nicht mitteilen, weil sie dem Sozialdatenschutz unterliegen.
Um Ungleichbehandlungen zu vermeiden, müssten sich auch die Arbeitnehmer selbst auf den Sozialdatenschutz berufen können, argumentierte das LAG. Es sei nicht einsichtig, dass Arbeitgeber ihre Mitarbeiter zur Offenlegung von Daten zwingen könnten, „die die Krankenkasse nicht hätte offenbaren dürfen“.
Ähnlich wie beim Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung selbst müsse daher der Arbeitnehmer die Diagnosen zumindest solange zurückhalten können, „bis der Arbeitgeber Tatsachen vorlegt, die zu Zweifeln an der Richtigkeit der Mitteilung der Krankenkasse Anlass geben“. Im konkreten Fall habe der Arbeitgeber dies nicht getan.
Wegen seiner Abweichung von der höchstrichterlichen Rechtsprechung des BAG ließ das LAG mit seinem jetzt schriftlich veröffentlichten Urteil vom 8. Juni 2016 die Revision zu. mwo
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