Tiere, und nicht nur Menschen, heilen sich selbst: Sie beugen Infektionen vor, pflegen ihre Kranken, stecken potenziell Kranke in „Quarantäne“ und nutzen Medikamente. Sie essen heilende Pflanzen, wälzen sich im Schlamm, um Zecken abzuschütteln; das Sumatra-Nashorn frisst Rinde, die Tannin enthält und Parasiten bekämpft; Hunde und Katzen schlucken Gras, um sich zu erbrechen.
Inhaltsverzeichnis
Schweinesuhlen und Katzenviagra – Die Medizin der Tiere
Bären, Wapiti-Hirsche, Kojoten, Füchse und Pumas essen Pflanzen, die heilende Wirkung haben. Stare basteln Pflanzen in ihre Nester ein, die Wirkstoffe gegen Bakterien, Insekten und Milben enthalten. Damit stärken sie die Nestlinge, die haben später ein höheres Körpergewicht und leben länger als solche Artgenossen, die als Jungtiere unter den Plagegeistern litten; Weibchen bevorzugen Männchen, die solche Pflanzen verwenden. Manche Affen essen Blätter, die schädliche Mikroben bekämpfen – und sie essen diese Pflanzen, wenn sie krank sind. Schildkröten fressen Mineralien, die Kalzium enthalten und ihren Panzer stärken.
Huftiere bringen ihre Jungen früh in Kontakt mit anderen Herdenmitgliedern. Damit lernen die Kinder zwar auch soziales Verhalten, immunisieren sich aber zugleich gegen Keime. Großkatzen schleifen ihre Beute vermutlich ebenfalls durch den Dreck, bevor die Jungen sie fressen, um den Nachwuchs zu immunisieren.
Heilkundelehrer des Menschen
Tiere sind die ältesten Heilkundelehrer des Menschen. Grizzlys zum Beispiel zerkauen die Blätter des Ligusters, verteilen den Brei auf ihren Pfoten und reiben sich damit das Fell ein. So bekämpfen sie Milben und Zecken. Die Navajo im Südwesten der USA nutzen diese Pflanze ebenfalls gegen Parasiten und Infektionen. In ihrer Überlieferung lernten sie die Heilkraft des Ligusters von den Bären. In vielen Kulturen der American Natives ist Bär ein mythischer Vater der Medizin.
Die Ureinwohner Perus erkannten, dass Pumas immer dann an der Rinde eines bestimmten Baumes kauten, wenn sie krank waren. Wir kennen den Extrakt dieser Rinde heute als Chinin – das Mittel gegen Malaria und Fieber aus dem Chinarindenbaum.
Dreckige Schweine?
Schweine suhlen sich im Schlamm. Auch deswegen bezeichnen wir einen unsauberen Menschen als „Dreckschwein“. Das Suhlen dient jedoch der Hygiene: Erstens haben die Tiere eine sensible Haut und leiden unter Sonnenbrand, und auch afrikanische Kulturen reiben sich mit Lehm oder Asche ein, um sich vor der Sonne zu schützen. Zweitens kühlt der Schlamm; Schweine können nämlich nicht durch die Haut schwitzen, sondern hecheln wie Hunde. Drittens werden sie damit Plagegeister los: Sie baden im Schlamm, scheuern diesen später an Bäumen wieder ab und mit ihm die Stechmücken, Schnaken, Zecken, Läuse, Flöhe und Milben.
Baldrian – Viagra für Katzen
Katzen sind verrückt nach Baldrian. Baldrian ist eine Pflanzengattung mit mehr als 150 Arten. Alle enthalten ätherische Öle und Alkaloide, darunter die Sesquiterpene. Die wirken auf uns Menschen beruhigend. Deshalb nutzen wir Extrakte des echten Baldrians (Valeriana officinalis) gegen Stress.
Auf Katzen wirkt Baldrian völlig anders. Die Alkaloide erregen nämlich Katzen und Kater wie Sexuallockstoffe. Während Apotheken Baldrian für entspannten Schlaf und innere Ruhe verkaufen, bietet der Zoofachhandel mit Baldrian gefülltes Spielzeug für Katzen an. Das sollte jedoch die Ausnahme sein, denn wie auch der Rausch beim Menschen, bedeutet Dauererregung für die Katzen Stress.
Katzen schnurren sich gesund: Sie schnurren, wenn sie genießen – das ist bekannt. Forscher in North Carolina fanden jedoch heraus, dass Katzen auch schnurren, wenn sie krank sind. Denn, so das verblüffende Ergebnis: Verletzungen heiler schneller bei Geräuschen auf einer Frequenz von 22 bis 30 Hertz, als Schnurrlautstärke.
Es hilft sogar Menschen: Katzen sind für kranke Menschen nicht nur Partner, die den Trübsal vertreiben, sondern ihr Schnurren senkt den Blutdruck, und das Gehirn schüttet Serotonin aus. Der Kranke fühlt sich besser und kann besser schlafen.
Der Speichel der Wölfe
Wölfe und Hunde lecken sich ihre Wunden (Menschen tun dies in Extremsituationen bisweilen auch). Damit behandeln sie Verletzungen und Infektionen. Der Speichel bekämpft häufige Bakterien wie Steptokokken.
Darmparasiten begegnen sie mit Gras. Sie fressen für die Fleischesser unverdauliches Grünzeug, das den Darmbetrieb anregt und scheiden es wieder aus. Wölfe ziehen Beutetiere absichtlich durch den Dreck, damit die Welpen die Erde aufnehmen und sich so immunisieren.
Entgiftung bei Aras
Aras, die größten aller Papageien, können mit ihrem Schnabel jede Nuss knacken – und sie fressen Kerne. Nicht alle dieser Kerne bekommen ihnen jedoch. Im Manu-Nationalpark in Peru entgiften sich mit Lehm. Sie nehmen Lehm an Kalkfelsen auf, der bindet die Gifte im Magen und sorgt dafür, dass die Vögel sie ausscheiden, ohne ihrem Körper zu schaden.
Auch viele andere Tierarten essen Erde, um Krankheiten vorzubeugen: Kolobusaffen ebenso wie Gorillas und Schimpansen, Tapire wie Waldelefanten. Lehm absorbiert Bakterien und ihre Gifte
Geburtenkontrolle bei Schimpansen
Unsere nächsten Verwandten praktizieren eine Heilkunde, die mit Instinkt nicht mehr erklärt werden kann; es handelt sich um eine (vor-) kulturelle Tradition, die die Wissenden an die nächste Generation weitergeben.
Schimpansen behandeln Diarhoee, Infektionen und Parasiten mit Heilpflanzen, nach denen sie systematisch suchen – es handelt sich um planvolles Verhalten. Sie kauen heilende Blätter auch nicht wie Futterpflanzen, sondern rollen sie im Mund hin und her wie Drops, die wir lutschen, damit die Mundschleimhaut die Wirkstoffe aufnimmt.
Kinder beobachteten ihre erkrankten Mütter und probierten dabei selbst die „Medizin“. Die heilenden Blätter schmecken bitter, und Schimpansen meiden Nahrungsmittel mit Bitterstoffen ansonsten.
Schimpansen essen Korbblütler, Eisenkraut und Hibiskus gegen Würmer, Sie schlucken die Blätter, ohne sie zu kauen und scheiden sie unversehrt wieder aus. Die Pflanzen töten die Würmer nicht, sondern wirken als Abführmittel. Sie regen den Darm an und fördern so die Verdauung.
Wissenschaftler im japanischen Kyoto untersuchten, wie die Schimpansen lernen, solche Kräuter einzusetzen. Sie gaben Schimpansen in Gefangenschaft die kratzigen Kräuter. Einige fraßen sie wie „normale“ Pflanzen; andere weigerten sich. Wenige jedoch schluckten die Kräuter im ganzen und andere Affen kopierten diese Technik.
Die Schimpansen in Bulindi in Uganda schlucken die abführenden Kräuter besonders häufig. Bei anderen Artgenossen findet sich die „Medizin“ in circa einer von hundert Kotproben; bei den Schimpansen von Bulindi zehn mal so häufig.
Die Affen in Bulindi leben in kleinen Wäldern inmitten menschlicher Siedlungen. Sie kommen häufig in Kontakt mit Menschen und ihren Nutztieren. Deshalb fangen sie sich auch deren Parasiten ein. Vermutlich müssen sie deshalb zur Apotheke der Natur greifen.
Schimpansinnen verhüten offensichtlich sogar: Sie fressen nämlich Pflanzen, die auch die Menschen vor Ort zu sich nehmen, um ungewollte Kinder zu verhindern. Wenn sie Babys haben, fressen Schimpansinnen Bohnen, die Östrogene enthalten und deshalb verhütend wirken. Werden die Jungen größer, lassen sie davon ab.
Insektenschutz bei Kapuzineraffen
Auf der Nicoya-Halbinsel in Costa Rica brechen Weißgesicht-Kapuzineraffen bestimmte Zitrusfrüchte auf und reiben den Saft in ihr Fell. Sie nutzen dazu außerdem Blätter und Samenstengel von Clematis dioica, Piper marginatum und Slonanea terniflorastems. Sie mischen diese Pflanzen mit ihrem Speichel und reiben sich mit diesem Brei ebenfalls ein. Die Menschen vor Ort verwenden genau diese Pflanzen, um Insekten abzuhalten und Hautausschlag zu behandeln.
Krankenpflege der Tiere
Tiere kümmern sich um kranke Mitglieder der Gruppe. Wölfe bringen siechenden Mitgliedern des Rudels Fleisch, und Mangusten in Afrika füttern Verletzte ebenfalls. Elefanten bleiben bei schwachen Artgenossen, statt weiterzuziehen und verlassen selbst Verstorbene tagelang nicht. Im der Wildtierpflege- und Artenschutzstation Sachsenhagen bei Hannover zum Beispiel lebte ein blinder Uhu. Sein gesunder Artgenosse fütterte ihn mit Mäusen und Küken.
Heilen mit Ameisen
Mehr als 200 Arten von Singvögeln reinigen sich mit Ameisen. Sie nehmen Ameisen in ihren Schnabel und lassen sie die Federn entlang laufen. Oder sie rollen sich in Ameisenhaufen, damit die Ameisen durch die Federn krabbeln. Das Ameisengift bekämpft Federläuse.
Auch Katzen, Eichhörnchen und Affen rollen sich in Ameisenhaufen – aus dem gleichen Grund. Eulenmeerkatzen reiben hochgiftige Tausendfüßler während der Regenzeit auf ihre Körper, wenn die Affen unter Moskitostichen leiden. Die Sekrete der Tausendfüßler enthalten wirkungsvolle Insektenabwehrstoffe – Benzoquinone.
Echsenkräuter gegen Schlangenbisse
Tejus in Brasilien (tppinambis spp.) fressen eine spezielle Wurzel, wenn sie von einer Giftschlange gebissen wurden und kämpfen danach weiter mit der Schlange. Dabei handelt es sich um Jatropha elliptica, die die Einheimischen benutzen, um Schlangenbisse und Brandwunden zu heilen.
Symbiosen
Tiere unterschiedlicher Arten gehen Symbiosen ein, von denen beide profitieren. Nilkrokodile, die ausgewachsene Kaffernbüffel fressen, lassen Krokodilwächter, kleine Watvögel, in ihrem Maul nach Parasiten picken, Putzerfische suchen ihre Nahrung im Maul und an den Kiemen großer Zackenbarsche.
Pflegeinstinkt
Der Pflegeinstinkt überwindet bei Säugetieren nicht nur die Artgrenze, sondern auch die Grenze zwischen Jäger und Beute. Hunde säugten Tigerbabys, Katzen kümmerten sich um Küken und leckten Mäuse sauber wie ihre eigenen Jungen.
Hygiene und Quarantäne
Singvögel picken sich gegenseitig die Läuse und Milben von der Haut. Kühe, Schafe und Pferde fressen kein Gras in der Nähe ihrer Ausscheidungen. So beugen sie der Verbreitung von Darmparasiten vor.
Beutegreifer, zum Beispiel Katzen und Hunde, fressen kranke Neugeborene auf. Das deutet auf Quarantäne hin, denn so entfernen sie potenzielle Krankheitserreger aus der Gruppe der empfindlichen Babys.
Viele Affenarten drängen fremde Affen an den Rand und vertreiben sie. Neben sozialen Faktoren weist dies ebenfalls auf Quarantäne: Die Affen vermeiden Körperkontakt und verhindern so Infektionen durch die Neuen.
Tier und Mensch
Zusammengefasst: Tiere praktizieren alle Grundmuster der menschlichen Medizin – sie beugen vor, sie behandeln Wunden und Infektionen mit Medikamenten, sie pflegen ihre Kranken, und sie isolieren potenzielle Seuchenträger. Auch Tiere verbinden sinnvolle Methoden, um sich zu heilen, mit Wohlbefinden: Hunde schütteln sich mit Wonne, kratzen sich hinter den Ohren und schützen sich so vor Flöhen, Läusen und Wanzen. Die Katze genießt es, sich morgens auf dem Teppich zu rollen und von ihrem Menschen das Fell kraulen zu lassen; das sind zugleich Techniken, um Hautparasiten los zu werden. Zu Recht heißen Yoga-Übungen nach Tierverhalten. Bei der Katzenstellung streckt man sich wie und trainiert so die Muskeln; ähnlich bringt sich die müde Katze in Schwung. Heilkunde ist also, im Wortsinn, natürlich. Der Mensch entwickelte diese Strategien zu ausdifferenzierten Systemen.
Menschen entwickelten die Sprache. So konnten sie Heilpraktiken in weit größerem Ausmaß weiter vermitteln als Tiere. Zudem verarbeiteten Medikamente in einem Ausmaß und stellten medizinische Geräte her, was es für Tiere unmöglich ist: Tiere können keine Tees kochen, einen Hut aufsetzen, wenn die Sonne brennt oder qualmende Feuer anzünden, um Insekten abzuhalten. Doch auch Affen stellen Wundsalben aus zerkauten Pflanzen und ihrem Speichel her, und Orang Utans nutzen große Blätter als Regenschirm.
Was in der westlichen Medizin lange als „Aberglaube von Wilden“ galt, nämlich die Heilkunde indigener Völker, bedeutet vor allem Lernen von den Heilkräften der Natur. Völlig zu Recht ordneten American Natives ihre jeweilige Medizin bestimmten Tierarten zu: Bären, Wölfen, Klapperschlangen oder Bisons. Das Wissen darum, wie Tiere sich heilen, war lebenswichtig.
Alles von Tieren zu kopieren, wäre indessen fatal: Der Magen der Wölfe (und Hunde) verträgt zum Beispiel die Keime in verwestem Fleisch weit besser als der menschliche; Beeren, die viele Vögel lieben, sind für Menschen giftig.
Doch auch bei uns verweben sich angeborene mit erlernten Fähigkeiten, und viele unserer Verhaltensweisen dienen unbewusst der Abwehr von Krankheiten. „Was der Bauer nicht kennt, das isst er nicht“, sagt ein deutsches Sprichwort. Das zeigt zwar vordergründig die konservative Mentalität der Landbevölkerung, ergibt aber einen evolutionären Sinn: Unbekannte Nahrung birgt immer die Gefahr, schwer verdaulich oder sogar giftig zu sein. So vergifteten sich Flüchtlinge aus Syrien, weil sie Knollenblätterpilze aßen, und die ersten europäischen Forscher am Amazonas standen wie Ochsen vor dem Berg angesichts einer Überfülle von Pflanzen, ohne zu wissen, ob diese giftig, ungenießbar oder essbar waren.
Unsere evolutionär entstandene Intuition kann auch täuschen: Wir lehnen Bitterstoffe unbewusst ab, vermutlich, weil viele Giftpflanzen bitter schmecken, Zucker konsumieren Menschen im Westen jedoch im Übermaß: In der Natur ist er ebenso notwendig wie selten, und mit süß assoziieren wir Honig und Früchte, also vitaminreiche Nahrung.
Im Notfall sagt indessen auch dem modernen Menschen sein Körper, was ihm gut tut, sei es der Heißhunger auf einen Rollmops oder Orangensaft nach einer durch zechten Nacht, um sich die nötigen Vitamine und Mineralien zuzuführen, sei es, dass wir uns kratzen, wenn es juckt – es könnte eine Laus oder eine Zecke sein; sei es, dass wir auf eine Wunde pusten (um sie zu kühlen) oder es nicht lassen können, an einer Verletzung zu lecken (um sie zu desinfizieren). Auf dieser Ebene gibt es kaum einen Unterschied zum Rind, das eine Salzlecke sucht, und zum Hund, der uns durchs Gesicht schleckt.
Warum behandeln sich Tiere aber überhaupt mit Medikamenten statt körpereigene Abwehrstoffe zu entwickeln? Warum schüttet das Schwein zum Beispiel kein Mückenabwehrsekret aus? Solche Stoffe zu produzieren kostet den Organismus weit mehr Energie als „Outsourcing“. Das gilt für kein Säugetier mehr als für den Menschen: Unsere nackten Vorfahren mit dem großen Gehirn standen der Natur hilfloser gegenüber als die meisten Tierarten.
Werkzeuge zu gebrauchen und lebenslang zu lernen ging auf Kosten der körperlichen Anpassung an einen spezifischen Lebensraum: So wie unsere Vorfahren Kleidung herstellten statt von Natur aus einen dicken Pelz zu haben, brauchten sie auch in der Medizin ihre Kultur, um zu überleben. Diese Kultur stand aber nicht außerhalb der Biologie, sondern gehört zu ihr, und die natürliche Grundlage unserer Medizin zu vergessen, macht uns krank.
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Manuela Lenzen: Die Tier-Ärzte, (Abruf 14.10.2019), wissenschaft.de
- Umweltbundesamt: Friss oder stirb – wie kranke Tiere sich selbst heilen, Green Radio Interview mit Barbara Fruth, (Abruf 14.10.2019), umweltbundesamt.de
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.