Der Indianer, der vor dem Vollmond zusammen mit einem heulenden Wolf weise Worte über Mutter Erde sagt, ist zum Klischee geronnen. Jedes Klischee hat aber einen wahren Kern: Tiere und Pflanzen zu verstehen galt als eine der wertvollsten Fähigkeiten, die ein erster Amerikaner entwickeln konnte. Indianische Medizin ist eine natürliche Erfahrungsmedizin, die von Generation zu Generation überliefert wurde.
Inhaltsverzeichnis
„Die Bücher des weißen Mannes genügen mir nicht. Der Große Geist hat mir die Möglichkeit gegeben, an der Hochschule der Natur zu studieren, die Wälder und Flüsse, die Berge und die Tierwelt.“ (Tatanga Mani)
Nordamerikanische Kulturen kannten nämlich kein abstraktes Jenseits, dem ein Diesseits gegenüberstand: Der Tod bedeutete ihnen eine andere Dimension des Lebens, in dem der Kreislauf von Leben und Vergehen weiterging. Damit verstanden sie Tiere und Pflanzen nicht als Sachen, sondern, wie den Menschen, als Teil des Geheimnisses des Lebens. Lange im Westen verachtet, sind geistige Praktiken indianischer Lehrer in die Psychotherapie eingegangen.
Ein romantisches Bild vom Schamanen, der mit geistigen Kräften in Kontakt steht, spukt in der Esoterik-Szene umher und verdeckt, dass die American Natives zwar an übernatürliche Wesen glaubten, aber auch ein umfassendes Wissen über Heilpflanzen und Mineralien besaßen.
Ganzheitliches Denken
Traditionelle Kulturen Nordamerikas sahen Krankheiten in einem kosmischen Zusammenhang, der alles Leben und auch Metalle, Steine und Elemente umfasste. Heilung bedeutete dabei, den Kranken mit diesen Kräften ins Gleichgewicht zu bringen.
Die Natives glaubten, dass die Geister Heilungen nur unterstützten, wenn die Rituale stimmten. Eine falsche Bewegung machte sie den ganzen Prozess zunichte. Indianische Medizinmänner versetzten sich gezielt in einen Zustand höherer Achtsamkeit, um die Verbindung zu metaphysischen Wesen herzustellen.
Die europäischen Eroberer ächteten die Medizinmänner als Scharlatane und Wahnsinnige, die Christen sahen in den Ritualen den Teufel am Werk; die Missionare bekämpften die Schamanen als direkte Konkurrenz.
Während die Einwanderer die Arbeit der Schamanen als Aberglaube geißelten, bedienten sie sich aber an deren Medizin, wo sie nur konnten. Gegen 1800 fanden sich über 200 indianische Heilpflanzen in den Apotheken der Weißen und viele euroamerikanische Ärzte bezeichneten sich als „Indian Doctors“.
Medizinmänner
Medizinmänner waren neben Häuptlingen die wichtigsten Menschen im Stamm. Es gab Bären-, Schlangen-, Bison-, Wolf- und Ottermedizinmänner, die sich auf verschiedene Krankheiten spezialisierten.
Das Wort verballhornt, einer Theorie zufolge, den Begriff Mededwiwin aus dem Chippewa für die Spezialisten. Diese Medizinmänner heilten Krankheiten, konnten sie aber auch verursachen und vermittelten zwischen dem Natürlichen und Übernatürlichen, bewahrten die Tradition als indianische Historiker, rief das Wetter herbei, leitete mit Ritualen das Jagdglück ein, vertrieb böse Geister aus dem Körper von Kranken, holte in der Geisterwelt verlorene Seelen zurück und sorgte dafür, dass die Menschen psychisch gesund wurden.
Heilpflanzen
Schamanische Rituale stehen im Wechselspiel von Philosophie und Psychotherapie, doch Heilung basierte auch auf einem umfassenden Wissen über viele hundert Heilpflanzen.
Die moderne Medizin erkennt heute mehr als 600 indianische Heilfpflanzen an und verwendet ihre Stoffe selbst. Dazu gehören Alltagsgewächse wie Löwenzahn ebenso wie Zaubernuss, die kleine Blutungen stillt und in Apotheken als Mittel gegen Juckreiz in Salben verarbeitet wird.
1536 retteten Indianer französische Pioniere im St. Lorenzstrom, die an Vitaminmangel litten. Jeder vierte Seefahrer war bereits an Skorbut gestorben, die Einheimischen versorgten die Überlebden mit Elsbeeren und retteten durch die darin enthaltenen Vitamine ihr Leben.
Indigene setzten die Rinde des Fenchelholzbaumes gegen Koliken und Blähungen ein, seine Blätter und Beeren halfen gegen rheumatische Erkrankungen, als Wundpflaster und das Wurzelmark als Narkotikum.
Natives nahmen Schimmelpilze von Bäumen und strichen sie auf Wunden und nahmen damit das Penicillin vorweg.
Sie nutzten die Yamswurzel als Verhütungsmittel. Yams enthält Progesteron, einen Hauptbestandteil der Antibaby-Pille.
Der indianische Wasserdost findet sich heute in Contramutan, einem Mittel gegen grippale Infekte, Entzündungen im Nasen- und Rachenraum. Die Natives nutzten ihm, um den Schweissfluss zu fördern und nahmen die Blätter und Zweige gegen Fieber ein.
American Natives brauten einen Tee aus Bärentrauben, um den Harnfluss zu fördern, die Wehen zu beschleunigen und zu kontrollieren. Sie mischten diesen Tee mit Holzasche. Dadurch wird der Harn alkalisch.
Aus der Beinwellwurzel stampften sie einen Brei und legten ihn auf Wunden auf. Sie behandelten damit Knochenbrüche ebenso wie Verstauchungen, Blutergüsse, Schwellungen und Gicht. Einen Tee aus den Wurzeln tranken sie gegen Husten, Erkältungen und Hämorrhiden. Aufgüsse aus den Blättern dienten gegen Erkrankungen der Galle, gegen Entzündungen der Haut und Magenbeschwerden, außerdem gegen Infektionen im Nierenbecken.
Der Kalifornische Goldmohn, auch Golden Poppy, ist von Mexiko bis zum Staat Washington verbreitet, Die Natives nutzten sein Pfahlwurzel als Mittel, um einzuschlafen und den frischen Saft als leichtes Narkotikum.
Birkenholz legten sie auf heiße Steine und atmeten den Rauch ein. Dies half gegen Erkrankungen der Atemwege und Bronchitis. Sie räucherten Zelte und Häuser mit Birkenholz aus, um sie zu reinigen, dabei ging Desinfektion und spirituelle Säuberung einher. Gekochte Birkenrinde legten sie auf Schwellungen auf und behandelten damit Schnittwunden.
Einen Tee aus Birkenblättern tranken sie, um den Urinfluss zu fördern.
Weidenrinde spielte in den Prärien und Wäldern eine Rolle, um Fieber zu senken und Schmerzen zu stillen. Die Cheyenne bereiten mit ihr einen Tee zu. Heute ist Aspirin eines der wichtigsten Medikamente, und die Acetylsalicylsäure ist in der Rinde enthalten.
Natives kannten das Abführmittel Mayapell, die Pinkroot gegen Wurmbefall, das Dogwood gegen Fieber, der Virginische Schlangewurz, um den Schweißfluss zu fördern, die Squawwurzel, um Krämpfe zu lösen, und die Menstruation einzuleiten.
Die Kiowa nutzten Seifenkraut, um Schuppen auszuwaschen, die Lakota den Stinkkohl, um Asthma zu lindern, die Komantschen setzte Tollkirsche gegen Tuberkulose ein, die Pawnee Indianerrüben gegen Kopfschmerzen, die Seneca eine „Klapperschlangenwurzel“, die später Erfolge bei Entzündungen des Brustfells erzielte.
Sonnenhut
Diese Blütenpflanze kennen wir in drei Arten als Schmalblättrigen, purpurnenen und blassen Sonnenhut. Die American Natives des Mittelwestens von Illinois bis nach Iowa und von Missouri bis nach Texas legten einen Brei aus diesem Kraut auf Brandwunden, Schnitte, geschwollene Lymphdrüsen und Mumps. Sie kauten die Wurzeln und linderten so Schmerzen – vor allem Halsschmerzen. Außerdem diente der Sonnenhut als Mittel gegen Schlangenbisse.
Der Mediziner H.C.F. Meyer hörte von der indianischen Medizin. Er lebte selbst in Nebraska, wo der Sonnenhut natürlich wächst und probierte sie gegen Migräne, Rheumatismus, Syphilis und Hämorriden. Seit den 1930er Jahren verbreiteten sich die Pflanzen in Deutschland.
Ein Tee aus Scheiben der Wurzel dämpft Schmerzen und wirkt antiseptisch.
Die Traubensilberkerze
Die Trauben-Silberkerz heißt auch Klapperschlangenkraut, Schwindsuchtwurzel, Wanzenkraut oder Schlangenwurzel, was bereits auf ihre Heilwirkung verweist.
Sie wächst im Osten der USA von Ontario in Kanada über New York, Ohio, Pennsylvania, West Virgina, Alabama, Arkansas, Delaware, Georgia, Maryland, den Carolina und Tennessee bis nach Illinois und Missouri.
Die Natives schnitten die Wurzeln und Scheiben und trockneten sie. Sie ernteten die Pflanze vor Sonnenaufgang. Dann sollte sie Geburtsschmerzen ebenso lindern wie Probleme beim Menstruieren.
Sie setzten die Silberkerze auch gegen Rheuma, Arthritis, Asthma und Schlangenbisse ein. Dann ernteten sie aber am Mittag. Den Saft der frischen Wurzeln mischten sie mit Ahornsirup gegen Husten und Beschwerden von Leber und Niere.
Die europäischen Einwanderer lernten die Kräfte der Pflanze von den Indigenen kennen und nutzten sie ebenfalls, um Menstruation und Geburt zu erleichtern. Im 19. Jh. etablierte sich die Pflanze auch unter den angloamerikanischen Ärzten. Die setzten sie jetzt auch gegen Entzündungen ein und behandelten mit Silberkerze Rheuma.
Als immer mehr American Natives Alkoholvergiftungen erlitten, behandelten indianische Heiler die Kranken mit Pulver aus der Wurzel.
Trauben-Silberkirsche wirkt ähnlich wie das Hormon Östrogen. Deshalb hilft es, wenn die weiblichen Geschlechtsorgane geschädigt sind. Allerdings sieht eine Studie der Cochrane Gesellschaft von 2012 die positiven Auswirkungen auf die Menstruation skeptisch.
Warum die Natives sie bei Erkrankungen der Leber einsetzten, ist schleierhaft. Zu den Nebenwirkungen von Medikamenten mit dem aus der Pflanze gewonnenen Stoff Cimicifuga gehören nämlich schwere Leberschäden, die einer endogenen Hepatitis entsprechen.
Die Natives verwendeten amerikanischen Ginseng, der die Durchblutung fördert, den Blutzuckerspiegel senkt und den Vitamin C Abbau verzögert; sie kannten die harntreibende Wirkung von Löwenzahn und brauten Tee aus Maisblättern gegen Darmträgheit und Diarrho. Der Tee senkt außerdem den Blutdruck und hilft gegen Beschwerden der Niere.
Yucca
Yucca wächst im heißtrockenen Südwesten der USA und in Mexiko. Die dortigen Natives wie Apatschen, Navajos, Zuni, Hopi, Pueblo, oder Yaqui legten sie auf Hautausschläge, behandelten mit der Wurzel Wunden ebenso wie entzündete Gelenke. Sie stellten auch eine Seife aus der Wurzel her, denn die Pflanze enthält viel Saponin, einen seifig beschaffenen Stoff.
Weißer Salbei
Salvia apiana, der weiße Salbei erreicht einen Meter Höhe und wächst als Halbstrauch in Kalifornien, Nevada, der Sonora- und der Mojavewüste. Er liebt volle Sonneneinstrahlung und Staunässe schadet ihm.
Für die Kulturen des Südwestens was der Salbei eine heilige Pflanze. Sie zündeten Salbeibündel an einem Ende an, löschten die Flamme und ließen die Glut glimmen. Außerdem warfen sie die Blätter in offenes Feuer und atmeten den Rauch ein.
Salbei ist ein wesentliches Element des Schwitzhütten-Rituals. Er soll schädigende Geistwesen vertreiben und innerlich wie spirituell reinigen.
Haus und Zelt reinigten die Natives mit Salbei, und wenn sie neu einzogen, verbrannten sie als erstes die Pflanze, manchmal auch nur symbolisch an der Eingangsöffnung.
Salbei wirkt tatsächlich desinfizierend, der Rauch reinigt die Haut porentief und wirkt gegen Schweißfluss.
Goldrute
American Natives nutzten alle Arten der in Nordamerika vorkommenden Goldrute. Die Ojibwa nannten sie Sonnenmedizin und behandelten damit Erkältungen, Schlangenbisse und Zahnschmerzen. Die ätherischen Öle der Goldrute treiben den Harn und lösen Krämpfe; die Pflanze hemmt außerdem Infektionen.
Goldmelisse
Die Goldmelisse heißt auf Deutsch auch Indianernessel. Sie liebt Sonne wie feuchten Boden und wächst einen Meter hoch. Sie schmeckt wie Melisse und Bergamotte; die Natives kochten die Blätter zu einem Tee, der Schleim löste und die Verdauung förderte.
Vanillegras
Dieses Gras wächst in Nordamerika, Asien und Europa, meist in feuchten Regionen. Es liebt mageren Boden. Die Indigenen schnitten und trockneten es, sie verbrannten es mit Salbei, um sich innerlich zu reinigen und nutzten es für die Schwitzhütte.
Der starke Geruch des Cumarins erinnert an eine Mischung als Waldmeister und Vanille. Es hilft gegen Erkältungen.
Traditonelle indianische Medizin heute
Die „indianische Medizin“ ging nicht unter, obwohl die amerikanische Kolonialmacht Schamanen lange verbot, ihrem Beruf nachzugehen. Insbesondere die Navajos verfügen nicht nur über ein ausgefeiltes traditionelles Heilsystem, sie haben es auch mit modernen Methoden und Erkenntnissen der „westlichen“ Wissenschaft weiterentwickelt: Auf der Navajo-Universität lässt sich Schamanismus inzwischen als Studienfach absolvieren; dabei gehören Module in Psychologie und Anthropologie ebenso zum Inhalt wie die Philosophie und Mythologie des Volkes.
Medizinmänner der Natives gelten auch im etablierten Wissenschaftsbetrieb nicht mehr nur als „Abergläubische“. Die suggestiven Heilmethoden, Trance und Ekstase ermöglichen vielmehr, dass sinnliche Erleben der Patienten, ihr Unbewusstes, ihr intuitives Denken und ihre Gefühle in der Heilprozess einzubinden und sind deshalb eine sinnvolle Psychotherapie. (Dr. Utz Anhalt)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Micah Dettweiler, James T. Lyles, Kate Nelson, u.a.: American Civil War plant medicines inhibit growth, biofilm formation, and quorum sensing by multidrug-resistant bacteria, Scientific Reports, 2019, nature.com
- Stürmer, Ernst: Apotheke der Indianer: Tipps aus der Ethno-Medizin, tredition, 2014
- Mary Koithan, Cynthia Farrell: Indigenous Native American Healing Traditions, The Journal of Nurse Practitioners, 2010, npjournal.org
- Fools Crow: Das indianische Wissen des Schamanen Fools Crow. Mit einem Vorwort von Russell Means. 2010
- Peter Schönfelder: Das neue Handbuch der Heilpflanzen. Stuttgart 2004
- Joest Leopold: Indianische Weltsicht. Untersucht am Beispiel der Navajo, Cheyenne, Chumash und Mandan. 1997
- Karl Hiller, Matthias F. Melzig: Lexikon der Arzneipflanzen und Drogen. Heidelberg 2010
- Alvin M. Josephy jr.: Die Welt der Indianer. München 1994
- Ernst Stürmer: Apotheke der Indianer: Tipps aus der Ethnomedizin 2014
- Rudolf Oeser: Epidemien – Das große Sterben der Indianer. BoD 2008
- Paul G. Zolbrod: Auf dem Weg des Regenbogens. Das Buch vom Ursprung der Navajo. Augsburg 1992
Wichtiger Hinweis:
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