Durch das manuelle Tasten des Pulses am Handgelenk lassen sich verschiedenste Pulsqualitäten erfühlen. Die Pulsdiagnose hat in der westlichen Schulmedizin einen anderen Stellenwert als in der chinesischen und der ayurvedischen Medizin.
Inhaltsverzeichnis
Der Puls
Ein ganz normaler Puls schlägt viermal pro Atemzug. Das sind zwischen 70 und 80 Pulsschläge pro Minute. Der Puls sollte regelmäßig und kräftig sein.
Ein Mensch, der regelmäßig Sport treibt und durchtrainiert ist, kommt in der Regel auf nur 60 Pulsschläge pro Minute. Werte darunter müssen näher hinterfragt werden und sind häufig als pathologisch zu werten.
Babys zeigen bis zum ersten Lebensjahr einen Pulsschlag von 120 Schlägen. Bis zum Alter von zwei Jahren reduziert sich der Wert auf 110 bis 115, mit vier Jahren auf 100 bis 110 und im Alter von acht Jahren sind Werte von 90 bis 95 Pulsschlägen normal.
Einflüsse auf die Pulsdiagnose
Folgendes sollte bei einer Pulsdiagnose berücksichtigt werden: Medikamente können den Puls verfälschen.
Ebenso beeinflussen Nervosität und ein angespanntes Gemüt die Pulsqualität. Eine Pulsdiagnose sollte nicht nach dem Essen oder dem Sport durchgeführt werden. Hier sind zwei Stunden Abstand nötig.
Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass bei Schwangeren der Puls eher schwach ist. Die Pulse bei untergewichtigen Personen gelten als eher „kraftlos“.
Puls tasten in der westlichen Schulmedizin
Die Pulsdiagnose, durchgeführt durch Tasten und Hinspüren, ist in der westlichen Schulmedizin durch die Einführung apparativer diagnostischer Untersuchungsverfahren ziemlich in Vergessenheit geraten. Sie ist bei der Erstuntersuchung hilfreich, um eine Verdachtsdiagnose zu formulieren.
Verschiedene Pulsqualitäten in der westlichen Schulmedizin
Verschiedene Pulsqualitäten deuten auf verschiedene Krankheiten hin. Zu den Pulsunterschieden gehören folgende: Pulsus celer, auch „Wasserhammerpuls“ genannt, ist ein Puls mit hoher Anstiegssteilheit.
Das Gegenteil dazu wird Pulsus tardus genannt. Ein hart schlagender Puls ist der Pulsus durus, ein weich schlagender Puls wird Pulsus mollis genannt. Pulsus altus bedeutet Puls mit hoher Amplitude und das Gegenteil dazu ist Pulsus parvus.
So zeigt sich zum Beispiel ein Wasserhammerpuls in Verbindung mit einer Aortenklappeninsuffizienz. Bei einer Aortenstenose hingegen ist der Puls langsam, klein und weich, beziehungsweise tardus, parvus und mollis.
Wird ein Puls abwechselnd stärker und schwächer, könnte dies auf eine Herzinsuffizienz hindeuten. Der Fachausdruck ist hier Pulsus alternans.
Bei ventrikulären Extrasystolen hingegen wechselt der Puls regelmäßig zwischen hart und weich – dies ist ein Pulsus bigeminus. Des Weiteren sind noch die Bezeichnungen Pulsus dicrotus (hypertrophe obstruktive Kardiomyopathie), anacrotus (Aortenstenose), vibrans (Aortenstenose), paradoxus (Herzbeuteltamponade) und filiformis (Kreislaufkollaps, Schock) bekannt.
Pulsdiagnose in der Traditionellen Chinesischen Medizin
Die Pulsdiagnose in der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) gehört neben Gesichtsdiagnose und Zungendiagnose zu den wichtigsten Diagnosemethoden. Für diese Diagnostik ist ein großes Maß an Wissen Feingefühl nötig. Dabei werden 28 verschiedene Pulsqualitäten unterschieden.
Die Pulsdiagnose ist ein Verfahren, für das ein langes Lernen und viel Erfahrung nötig ist. Meistens wird sie in Verbindung mit der Akupunktur und der Phytotherapie angewandt.
Gerade hierbei ist es in der TCM wichtig, vor der Therapie zu wissen, ob der Patient oder die Patientin in einem Fülle- oder Leerezustand ist. Mit Hilfe der Pulsdiagnose lässt sich dies feststellen.
Die verschiedenen Pulse befinden sich jeweils an drei Stellen über dem Handgelenk auf der Daumenseite. Dort wird der Puls in drei Ebenen ertastet – an der Hautoberfläche, in mittlerer und tiefer Ebene. Leere, Fülle und Disharmonien in den entsprechenden Organen werden damit festgestellt.
Ablauf der Diagnose
Wird in der TCM die Pulsdiagnose durchgeführt, sollten die Patientinnen und Patienten nüchtern (zwei Stunden nach dem Essen) sein. Das Trinken von stillem Wasser und Kräutertee ist erlaubt.
Das Rauchen vor dem Termin ist zu unterlassen. Der Patient oder die Patientin liegt bei der Diagnose entspannt auf dem Rücken oder sitzt aufrecht.
Die Hand, an der der Puls erspürt wird, liegt auf einem weichen Kissen. Während der Diagnostik wird nicht gesprochen.
An beiden Handgelenken wird der Puls von der oder dem Behandelnden mit Zeige-, Mittel- und Ringfinger gefühlt. Und dies auf drei Hautebenen.
Den drei Pulspunkten sind an der rechten Hand zugeordnet Lunge, Milz, und Nieren-Yang. An der linken Hand befinden sich Herz, Leber und Nieren-Ying.
Der oder die Behandelnde umfasst mit der Hand das Handgelenk des Patienten oder der Patientin. Und zwar so, dass der Zeigefinger des oder der Behandelnden gleich nach dem Radiusköpfchen zum Liegen kommt.
Der Zeigefinger (Cun) fühlt bei der rechten Hand die Lunge, der Mittelfinger (Guan) die Milz und der Ringfinger (Chi) das Nieren-Yang. An der linken Hand liegen dann Zeigefinger auf Herz, Mittelfinger auf Leber und Ringfinger auf dem Nieren-Yin.
Jede Seite wird auf allen drei Punkten gleichzeitig für mindestens eine Minute gefühlt. Dies ist für die Gesamtbeurteilung des Körpers wichtig. Anschließend wird jede Pulsstelle einzeln ertastet, um die Störungen der einzelnen Organe zu ermitteln.
Der oberflächliche leichte Druck ist für das Qi und die Yang-Organe wichtig, der mittlere Druck für die Blutebene, der tiefgehende Druck bietet Einblick in die Yin-Organe. Bei der Pulsdiagnose sind Frequenz, Kraft, Tiefe und Rhythmus der Pulse wichtig.
Beispiele für Pulsqualitäten in der TCM
Verschiedene Pulsqualitäten sprechen in der chinesischen Pulsdiagnose für verschiedene Disharmonien, Beschwerden und Erkrankungen.
Demnach deutet ein sogenannter leerer Puls auf ein Mangelsyndrom, einen Qi- (= Lebensenergie) und Blut-Mangel hin. Ein saitenförmiger, drahtiger Puls steht für Leber- und Gallenblasenerkrankungen. Ein kurzer Puls stellt einen Qi-Mangel oder eine Qi-Stagnation dar.
Die verschiedenen, wichtigsten Bezeichnungen für die unterschiedlichen Pulsqualitäten sind:
- oberflächlich,
- tief,
- schnell,
- langsam,
- voll,
- saitenförmig,
- drahtig,
- schlüpfrig,
- fadenförmig,
- dünn,
- überflutet,
- lang,
- kurz,
- unregelmäßig,
- intermittierend,
- und vieles mehr.
Daran lässt sich erkennen, dass eine Pulsdiagnose in der TCM alles andere als einfach zu erlernen ist. Dafür sind eine langwierige, höchst anspruchsvolle Ausbildung und für das Ertasten und Erfühlen ein gutes Gespür und große Erfahrung nötig.
Pulsdiagnose im Ayurveda
Auch im Ayurveda, übersetzt das „Wissen vom Leben“, existiert eine Pulsdiagnose. Hiermit lassen sich Disharmonien und Störungen bereits in sehr frühen Stadien erkennen und diese dann bereits behandeln, bevor sich manifeste Krankheiten daraus entwickeln.
Die Kunst des Pulslesens, „Nadi Vigyan“ genannt, ist eine uralte Tradition. Sie wird bereits in den alten Aufzeichnungen des Ayurveda erwähnt.
So gilt auch eine ayurvedische Empfehlung, dass jeder Mensch regelmäßig den Puls selbst ertasten oder ihn ertasten lassen soll. Hier hat die Prävention einen sehr großen Stellenwert.
Wie in der TCM werden drei verschiedene Pulse getastet und die Finger auch, ebenso wie oben bereits erwähnt, auf die Pulsstellen aufgelegt. Das einfache Erfühlen der drei Stellen ist leicht erlernbar. Doch das tiefere Erspüren und Diagnostizieren sollte unbedingt einem Fachmann oder einer Fachfrau überlassen werden.
Die drei Doshas
Im Ayurveda herrschen drei große Energiequellen vor, die drei Doshas. Das sind Vata, Pitta und Kapha. Diese drei Doshas sind aus ayurvedischer Sicht in allem Lebendigen vorhanden.
Vata steht für Schnelligkeit, Bewegung und Kommunikation. Vata reguliert das Immunsystem und das Nervensystem.
Pitta ist transformativ, kontrolliert den Herzschlag, die Temperatur und das Hormonsystem. Außerdem stellt es das Stoffwechselprinzip dar.
Kapha ist Substanz, ist wichtig für den Knochenbau und Festigkeit. Zudem steuert es die Flüssigkeiten im Körper.
Ablauf der Diagnose im Ayurveda
Die Finger werden, wie bereits erwähnt, auf die drei Pulsstellen aufgelegt. Der Zeigefinger für Vata, der Mittelfinger für Pitta und der Ringfinger für Kapha.
Auch hier werden die verschiedensten Pulsqualitäten wahrgenommen und interpretiert. Hinter jedem Dosha verbergen sich noch fünf Subdoshas.
Diese beherbergen die Funktionen verschiedener Organe oder Organsysteme. Fachleute können anhand der zarten Pulswelle die Ausschläge genau ablesen. Dabei wird jede Fingerkuppe beim Erspüren in gedachte fünf Bereiche unterteilt.
Dhatus
Als Dhatus wird die Pulsebene bezeichnet, die zwischen dem oberflächlichen und dem tiefen Puls liegt. Dies ist jedoch wirklich nur für Geübte geeignet. An der Qualität lässt sich der Zustand des Gewebestoffwechsels feststellen.
Die Stoffwechselaktivitäten werden in sieben verschiedene Dhatus unterschieden. Diese sind:
- Rasa (verdaute, im Blut mit schwimmende Nährflüssigkeit),
- Mamsa (Muskelmasse),
- Rakta (Blut),
- Asthi (Knochen),
- Meda (Fettgewebe),
- Majja (Knochenmark inklusive Gehirn),
- Sukra (Fortpflanzungsgewebe).
Durch diese differenzierten Wahrnehmungen lässt sich der gesamte Körper noch besser beurteilen. Das Zusammenspiel aus Körper, Seele und Geist soll dabei erfasst werden.
Jingei-Pulsdiagnose
Die japanische Jingei-Pulsdiagnostik ist gegenüber der Diagnostik in der Traditionellen Chinesischen Medizin eine vereinfachte Form. Hierbei werden an beiden Handgelenken gleichzeitig die Radialispulse gefühlt.
Die aussagekräftigere Seite wird dann durch das Fühlen des gegenüberliegenden Karotispuls mit diesem verglichen. Dies gibt Aufschluss über den energetischen Zustand des Patienten oder der Patienten.
Dies ist eine recht einfache, jedoch effektive Form der Pulsdiagnostik. Sie benötigt jedoch eine lange Erfahrung.
Zusammenfassung
Aufgrund der Apparatemedizin ist die Pulsdiagnose in der westlichen Schulmedizin sehr in den Hintergrund geraten. TCM und ayurvedische Medizin legen hingegen großen Wert darauf und setzen sie zur Prävention, zur Behandlung und Nachsorge ein. (sw)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Kalbantner-Wernicke Karin, Müller Johannes, Tetling Christiane, Waskowiak Astrid, Ogal H. P.: Handbuch Reflextherapie: Shiatsu. Akupunkt-Massage nach Penzel. Tuina (Deutsch), Springer, 2004
- Tirtha Swami Sadashiva: The Ayurveda Encyclopedia: Natural Secrets to Healing, Prevention & Longevity, Ayurveda Holistic CTR PR, 2007
- Yuan, Heping: Chinesische Pulsdiagnostik, 2. Auflage, Elsevier GmbH, 2008
- Lucius, Runhild: Anatomie-Atlas für Heilpraktiker, Haug, 2016
Wichtiger Hinweis:
Dieser Artikel enthält nur allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder -behandlung verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen.