Eine rote Kappe mit weißen Flecken, so lernen es Kinder, die im Wald spielen, heißt: Finger weg, denn es drohen beim Verzehr schwere Vergiftungen. Der Fliegenpilz (Amanita muscaria) ist jedoch zugleich ein Glückssymbol. Woher kommt diese doppelte Bedeutung des Fliegenpilzes zwischen Glück und Gift, Leben und Tod?
Inhaltsverzeichnis
Vorkommen der Fliegenpilze
Der Fliegenpilz (auch “Roter Fliegenpilz” genannt) wächst in offenen Wälder, besonders unter Birken und Kiefern, in verschiedenen Formen von Westeuropa bis nach Sibirien und in Nordamerika vom Pazifik bis zum Atlantik. Er wächst in reinen Laubwäldern ebenso wie in reinen Nadelwäldern, auf Halden, in Stadtparks, Gärten und auf der Heide, auf Friedhöfen, Wiesen, Mooren und am Waldrand.
Der Fliegenpilz lebt in Symbiose mit Birken, Kiefern oder Fichten, aber auch mit Buchen, Eichen und Tannen. Er wird bis zu 23 cm hoch, der halbkugelförmig gewölbte Hut erreicht bis zu 20 cm. In Europa und dem Nordwesten Amerikas leuchtet dieser knallrot mit weißen Warzen, im Osten und im mittleren Westen der USA sind die Warzen gelblich und der Hut orange – eine Variante in Idaho ist weiß.
Narren und Teufel
Weitere deutsche Namen sind Fliegenschwamm oder Rabenbrot, Narrenschwamm oder Glückspilz, die die Rauschwirkung des Pilzes betonen. Das gleiche gilt für Bezeichnungen in anderen Kulturen wie tschasch baskon, Augenöffner in Afghanistan, Toadstool oder fly-agaric in England oder aeh kib luúm bei den Lakandonen, terecua-cauica, berauschender Pilz, bei den Tarasken oder yuyo de rayo, im Spanischen, was Donnerkeil-Pilz heißt.
Dämonische Kräfte wurden dem Fliegenpilz unterstellt, deutlich in Namen wie xibalbaj okox (Quiche), der Unterweltspilz, itzel okox (Quiche), teuflischer Pilz, Keckchi rocox aj tza oder (Cakchuiquel), Teufelspilz.
Verwechslung mit anderen Pilzen
Der Königsfliegen-Pilz unterscheidet sich durch seine braune Farbe von der roten Nominat-Form. Der junge Fliegenpilz in seiner Hülle lässt sich leicht mit dem essbaren Perlpilz verwechseln. Die Velumschüppchen (die weißen Punkte) kann der Regen abwaschen. Dann sieht der Rote Fliegenpilz dem Orangegelben Scheidenstreifling und dem essbaren Kaiserling ähnlich.
Der junge Fliegenpilz sieht außerdem dem Pantherpilz sehr ähnlich, ein Verwandter aus der Familie der Wulstlinge. Wie der Fliegenpilz enthält der Pantherpilz Ibotensäure, die sich beim Trocknen in Muscimol verwandelt. Der Hut des Verwandten ist nicht rot, sondern bräunlich-bläulich-grau.
Giftwirkung beim Fliegenpilz
Der Fliegenpilz gilt als Giftpilz, wobei die enthaltene Ibotensäure und das Muscimol auch zu einer bewusstseinsverändernden Wirkung führen. Der frische Pilz enthält vor allem Ibotensäure, diese nimmt jedoch beim Trocknen durch Decarboxylierung ab, und so entsteht das stark halluzinogene Muscimol.
Vorsicht bei der Behandlung: Früher wurde Muskarin für die Vergiftung durch Fliegenpilze verantwortlich gemacht. Wird jedoch Hyoscyamin als Gegenmittel angewandt, können die Betroffenen daran sterben, während durch unbehandelte Vergiftungen keine Todesfälle bekannt sind. Um der Vergiftung entgegenzuwirken ist Physostigmin als Antidot unbedenklich.
Die Wirkung der Pilzes beginnt ungefähr eine Stunde nach der Einnahme. Typisch sind Halluzinationen, visuell, akustisch, sensorisch und haptisch. Die Betroffenen hören Geräusche deutlicher und ihr Tastsinn nimmt zu.
Der Konsum des Pilzes führt schon in kleinen Mengen zu Beschwerden wie Müdigkeit, Schwindel und visuellen Halluzinationen, kann aber mitunter auch Euphorie und ein Gefühl der Schwerelosigkeit bedingen, was die Nutzung als Rauschmittel erklärt.
Kann Fliegenpilz tödlich sein?
Werden größere Mengen des Pilzes verzehrt, zeigen sich klassische Symptome einer Vergiftung – vor allem gekennzeichnet durch Muskelzucken, Orientierungslosigkeit und Verwirrung. Mehr als zehn Pilze können tödlich wirken. Bis heute ist aber kein Fall bekannt, bei dem Fliegenpilze allein den Tod eines gesunden Erwachsenen verursacht hätten.
Die Reizschwelle sinkt nach dem Konsumieren des Pilzes. Die Euphorie kann in Angst und sogar in eine Panikattacke umschlagen, besonders, wenn Menschen den Pilz unbeabsichtigt zu sich nehmen. Manche berichten auch von Apathie und Lethargie.
Nach zehn bis 15 Stunden lässt die Wirkung nach und die Betroffenen erinnern sich meist nur noch bruchstückhaft an die Eindrücke der durchlebten Vergiftung. Bei einem wiederholten Konsum können Leber- und Nierenschäden auftreten, die ihrerseits ein ernste Gesundheitsrisiko darstellen.
Gartenzwerge und Götterspeichel – Der Fliegenpilz in der Mythologie
Sibirische Schamanen glauben, der Fliegenpilz entstehe aus dem Speichel des höchsten Gottes. Die alten Germanen glaubten, dort, wo dem Pferd ihres Gottes Wotan der Geifer herunter tropfte, würden die Pilze entstehen. Daher stammt der Name Rabenbrot, denn Hugin und Munin, der Gedanke und die Erinnerung, waren die beiden Raben, die Wotan bzw. Odin begleiteten.
Manche Religionswissenschaftler halten den Fliegenpilz für das sagenhafte Soma in den vedischen Texten der altindischen Kultur. Soma galt als notwendig für alle wichtigen Rituale, da sich mit ihm Menschen wie Götter in Rausch versetzten. Mutmaßlich brachten die arischen Stämme den Fliegenpilz vor 3.500 Jahren in das Tal des Indus.
Fliegenpilz als Rauschmittel?
Als Droge spielte der Fliegenpilz vor allem im religiös-schamanischen Kontext eine zentrale Rolle. Völker Sibiriens nutzen ihn auch heute noch als Rauschmittel: Sie sammeln die Pilze im Sommer, essen sie roh oder legen sie in Wasser ein und trinken den Sud.
Samojaden, Ostjacken, Tungusen, Kamtschadalen und andere Stämme Sibiriens kannten vor Ankunft der Russen keinen Alkohol. Sie legten den Pilz in Schwarzbeeren-, Trunkelbeeren- oder Weidenröschensaft ein. Oder sie kauten ihn lange. Der Pilz galt als so kostbar, dass die Ureinwohner Sibiriens sogar den Urin von Konsumenten tranken, da die Wirkstoffe im Harn unverändert bleiben. Und auch den Urin der Rentiere tranken sie, da diese ebenfalls die Pilze verzehrten. Im sibirischen Kosmos lässt der „Speichel der Götter“ die Konsumenten in die Welt der Geister eintreten.
1730 publizierte ein schwedischer Offizier, F.J. von Strahlenberg, ein Buch über Sibirien und schrieb über den Fliegenpilz als Droge. Der deutsche Forscher Georg Wilhelm Steller bestätigte dies wenige Jahrzehnte später bei seiner Expedition durch Sibirien.
In der Neuzeit wurde der „Götterpilz“ jedoch auch in Sibirien zu einer „weltlichen“ Droge. Während sich die Europäer in den Metropolen mit Opium berauschten, feierten die Korjaken rauschende Feste mit den „Glückspilzen“.
„Die Wirkung variiert stark von Person zu Person, Beginn 15-60 Minuten nach der Aufnahme, mit Zittern, Zucken und leichten Kraempfen in den Gliedmassen. Die Fuesse werden taub. Eine Euphorie, gekennzeichnet von Gluecklichkeit, Leichtfuessigkeit und dem Wunsch zu Tanzen steigert sich zu farbigen, visuellen Halluzinationen. Makropsie ist gewoehnlich. Danach folgt ein tiefer Schlaf bedingt durch die Erschoepfung.” (Wanke / Taeschner in „Rauschmittel“ über den Fliegenpilz)
Der englische Reisende Oliver Goldsmith nahm an einem solchen Fest teil und schrieb: „Wenn die hohen Damen und Herren versammelt sind, macht der Pilzsud seine Runde. Sie beginnen zu lachen, erzählen Unsinn, werden zunehmend beschwipst und somit zu ausgezeichneten Gesellschaftern.“ Ein einzelner Pilz konnte so viel kosten wie ein Rentier. Die Ärmeren warteten angeblich, bis die „hohen Herren“ ihre Blase erleichterten und leckten dann den Urin auf.
Noch heute konsumieren ihn: Chukchi, Koryaken und Kamdschadalen, die finnisch-ugrischen Völker und die Vogulen. In ganz Russland legen die Menschen bisweilen ein bis zwei der Pilze in Wodka ein und verstärken so die Wirkung des Alkohols.
Bilsenkraut und Zwergenwein
Im Hindukusch kochen die Einheimischen Fliegenpilze mit Bergspringkraut und der Lake von Ziegenkäse. Gelegentlich geben sie auch die hoch halluzinogenen Blütenkelche des Bilsenkrauts hinzu.
Die Chuj-Indianer in Mexiko sammeln Fliegenpilze unter Pinien, trocknen die Hüte und rauchen sie mit Tabak vermischt.
1855 beschrieb Ernst Freiherr von Bibra den rituellen Konsum des Fliegenpilzes in seinem Buch „Die narkotischen Genussmittel und der Mensch“, 1860 erörterte M.C.Cooke den Gebrauch des Pilzes bei sibirischen Schamanen in seinem Werk „The Seven Sisters of Sleep“.
In der deutschen Sage tranken die Zwerge das Regenwasser, das sich im Hut des Pilzes sammelte als „Zwergenwein“.
Der Weihnachtsmann – Ein Fliegenpilz?
Said Donald Pfister, ein Biologe an der Universität von Harvard, meint, der Weihnachtsmann in seinem rot-weißen Gewand sei vom Fliegenpilz inspiriert, unter anderem von Fliegenpilzen, die Schamanen bzw. Priester heidnischer Kulturen zum Fest der Wintersonnenwende bei sich getragen hätten.
Der Ethnologe Christian Raetsch behauptet, Rot stünde in schamanischen Kulturen für das Weibliche (Menstruationsblut) und weiß für das Männliche (Sperma). „Der Fliegenpilz erscheint nur einmal im Jahr, ebenso wie der Weihnachtsmann. Der Fliegenpilz entsteht mythologisch in der Zeit der Wintersonnenwende, der Weihnachtsmann kommt zu Mittwinter. Die Bezüge zum ekstatischen Himmelsgott Wotan teilen beide – und beide alle Jahre wieder.“
Er geht sogar noch weiter: „Beide, der Fliegenpilz und der Weihnachtsmann haben eine direkte Verbindung zur Anderswelt. In Fliegenpilzen wohnen die Wichtel, den Weihnachtsmann begleiten die rotmützigen Weihnachtswichtel.“
Das gesamte Weihnachtsfest ist für Raetsch ein schamanisches Ritual der Ekstase. Er schreibt: „Am Anfang ihrer Rituale, quasi zur Begrüßung, beräuchern die Schamanen Fliegenpilze. Und auch der Weihnachtsmann wird in einer Atmosphäre von duftendem Räucherwerk empfangen. Der Fliegenpilz verleiht dem Schamanen die Fähigkeit zu fliegen. Der Weihnachtsmann fliegt mit seinem Schlitten, von Geisterrentieren gezogen. Auch die Fliegenpilz-Schamanen reiten auf Zauberrentieren durch die Lüfte.“
(Dr. Utz Anhalt)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- René Flammer / Egon Horak: Giftpilze – Pilzgifte. Pilzvergiftungen. Ein Nachschlagewerk für Ärzte, Apotheker, Biologen, Mykologen, Pilzexperten und Pilzsammler. Schwabe, Basel, 2003.
- Roth, Frank, Kormann: Giftpilze, Pilzgifte - Schimmelpilze, Mykotoxine. Nikol, Hamburg, 1990.Wolfgang Bauer, Edzard Klapp, Alexandra Rosenbohm (Hrsg.), Der Fliegenpilz, Basel: AT-Verlag, 2000
- Bernhard van Treeck, Drogen- und Suchtlexikon, Berlin: Lexikon-Imprint-Verlag, 2004
- Wolfgang Schmidbauer, Jürgen Scheidt: Handbuch der Rauschdrogen: Fischer Taschenbuch Verlag 1999
- M. Bon: Pareys Buch der Pilze 1988.
- R. Flammer: Differentialdiagnose der Pilzvergiftungen. Gustav Fischer Verlag Stuttgart-New York
Wichtiger Hinweis:
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