Gelber Enzian enthält mit Amarogentin den wahrscheinlich bittersten Naturstoff. Als Bitterstoff angewendet fördert dieser vor allem die Verdauung, hilft aber auch bei der Wundheilung und gegen Infektionen. Die seltene Gebirgsstaude findet sich in Kräuterlikören, als Tropfen oder Tee und lässt sich gut mit Wermut und Löwenzahn kombinieren.
Inhaltsverzeichnis
Steckbrief
- Wissenschaftlicher Name: Gentiana lutea
- Volksnamen: Bitterwurzel, (Berg-)Fieberwurzel, Hochwurzel, Edler Enzian, Gemeiner Enzian, Gelbsuchtwurzen, Butterwurz, Sauwurz, Zinzalwurz, Darmwurzen, Halunkenwurz, Jänzene
- Familie: Enziangewächse (Gentianaceae)
- Verbreitung: Alpen und andere Gebirge Europas, Westasien
- Verwendete Pflanzenteile: Wurzel
- Anwendungsgebiete:
- Appetitlosigkeit
- Blähungen, Völlegefühl und andere Verdauungsbeschwerden
- Gallenstörungen
- Entzündungen der Atemwege
Inhaltsstoffe – Bitterstoffe
Die medizinischen Stoffe stecken vor allem in der Wurzel. Der Volksname „Bitterwurzel“ sagt es: die Enzianwurzel bietet mit ihren Bitterstoffen ein reines Bittermittel (Amarum purum).
Der in der Wurzel enthaltene Stoff Amarogentin hat einen Bitterwert von etwa 58.000.000, was zu einem Bitterwert der Wurzel (Gentianae radix) von mindestens 10.000 führt. Verdünnten wir also ein Gramm isoliertes Amarogentin mit 58 Millionen Litern Wasser, beziehungsweise ein Gramm der pflanzlichen Droge Gentianae radix mit zehn Tausend Litern Wasser, so schmeckt dieses Wasser noch immer bitter.
Das macht den Gelben Enzian zur bittersten heimischen Arzneipflanze. Er enthält bis zu vier Prozent Bitterstoffe, überwiegend Gentiopikrosid (zwei bis drei Prozent) und 0,05 Prozent Amarogentin. Weitere bioaktive Stoffe sind Phytosterine, Xanthonderivate, diverse Zuckerarten – darunter die Gentianose, die etwas bitter schmeckt, obwohl sie ein Zucker ist und Polysaccharide wie Inulin. Xanthone färben die Pflanze gelb.
Gentianae radix – Weiß wird Gelb
Die frisch aus der Erde gezogenen Wurzeln und Rhizome haben zunächst eine weiße Farbe und fast keinen Eigengeruch. Wenn sie jedoch an der Luft getrocknet werden, verfärben sie sich gelb und verströmen einen scharfen, unangenehmen Geruch. Ihr Geschmack ist erst süß, wird dann aber extrem bitter.
Wirkungen
Die Wurzel des Gelben Enzians kann bei verschiedenen Beschwerden als Arzneimittel angewendet werden. Extrakte und Zubereitungen aus der Enzianwurzel wirken aufgrund der Bitterstoffe vor allem appetitanregend und verdauungsfördernd. Des weiteren entfaltet Enzianwurzel positive Wirkungen auf die Haut, auf Blutgefäße und auf die oben und unteren Atemwege.
Traditionell findet Enzianwurzel in weiteren Bereichen Anwendung, die aber nicht wissenschaftlich belegt sind. Diese umfassen unter anderem die allgemeine Stärkung des Körpers und des Immunsystems, das Senken von Fieber, das Lindern von Entzündungen und die Bekämpfung verschiedener Entzündungs- sowie Infektionskrankheiten.
Magen-Darm-Beschwerden
Die Bitterstoffe wirken vor allem gegen Verdauungsprobleme, da sie die Magensäfte anregen. Genauer gesagt: Sie reizen die Geschmacksnerven der Zunge und dies führt zum vermehrten Bilden von Speichel und Magensäure. Durch den Reiz schütten Magenzellen zudem verstärkt das Verdauungshormon Gastrin aus. Dies regt ebenfalls die Ausschüttung von Magensäften an und stimuliert die Produktion von Gallenflüssigkeit. So kommt es zu einer Appetitanregung und Verdauungsförderung.
Enzian wirkt folglich gegen
- Verstopfung,
- Blähungen,
- Völlegefühl,
- Appetitlosigkeit
- und Störungen der Gallenfunktionen.
Haut, Atemwege und Blutgefäße
Gelber Enzian wirkt auch auf die Oberhaut (Epidermis), die Atemorgane und die Blutgefäße. So finden sich Rezeptorproteine für Bitterstoffe auch auf den Zellen der Epidermis. Deren Ausreifen wird durch Bitterstoffe verbessert. Traditionell werden die Wurzeln auch für die Wundheilung eingesetzt – und die Rezeption der Bitterstoffe lässt solche Anwendungen plausibel erscheinen.
Amarogentin und andere Bitterstoffe lösen einen Calcium-Einstrom in die Zellen der Oberhaut aus, was dazu führt, dass sich Lipide und Proteine bilden und die Hautbarriere gestärkt wird.
Bitterstoff-Rezeptoren sind durch Studien heute auch in den oberen Atemwegen nachgewiesen, ebenso im Enddarm. Enzianwurzel sorgt hier dafür, dass sich die Gefäße erweitern und bietet ein mögliches Potenzial für neue Asthma-Behandlungen.
In Laborversuchen zeigte sich, dass die enthaltenen bioaktiven Stoffe zähen Schleim aus den Atemwegen lösen. Deswegen lassen sich Wurzelextrakte auch gegen Bronchitis, Nasennebenhöhlenentzündung, grippale Infekte, Husten mit festsitzendem Schleim und ähnlichen Erkrankungen in Nase, Rachen und Bronchien einsetzen.
Zellreparatur und Wundheilung
Das Isogentisin im Enzianextrakt zeigte in wissenschaftlichen Analysen eine gewisse Schutzfunktion für Endothelzellen von Blutgefäßen, die Zigarettenrauch ausgesetzt werden. Isogentisin aktiviert die zelleigenen Reparaturfunktion.
Wirkstoffe der Wurzel regen die Zellteilung an und stimulieren die Produktion von kollagenen Bindegewebsfasern. Damit stärkt sie die Wundheilung.
Enzianwurzel für Arzneien
Arzneiliche Anwendungen nutzen den weit in den Boden reichenden Wurzelstock des Gelben Enzians. Die Wurzel wird getrocknet und im Anschluss zerkleinert, dann als Tee und Extrakt eingesetzt oder mit Alkohol zu Tinkturen, Likören und Schnäpsen verarbeitet.
Enzianblau oder Enziangelb?
Die bekannte blaue Enzianblüte tragen viele aber nicht alle Arten der Enziane. Der in der Medizin verwendete Gentiana lutea blüht in gelber Farbe. Da seine Wurzel, die die bioaktiv wirksamen Stoffe enthält, viel größer ist als die der blauen Verwandten, nutzt die Medizin in Deutschland ausschließlich den Gelben Enzian.
Produkte
In der Apotheke werden Produkte aus dem Gelben Enzian angeboten als Extrakt, Tee oder Tropfen. Häufig findet er sich in Kombination mit anderen Bitterpflanzen wie Wermut, Tausendgüldenkraut, Löwenzahn oder Benediktenkraut.
Entsprechende Arzneimittel sollten Sie mindestens 30 Minuten vor dem nächsten Essen einnehmen, damit sie bestmöglich die Verdauung anregen.
Enzianschnaps
Mit Enzian wird in Alpenregionen ein Schnaps oder Likör hergestellt, der ebenfalls „Enzian“ heißt. Es handelt sich dabei um ein Magenbitter, den die Menschen traditionell vor oder nach dem Essen trinken, besonders, um nach dem Verzehr schwer bekömmlicher Speisen die Verdauung anzukurbeln. Dieses alkoholische Getränk wird aus den Wurzeln von Gentiana lutea hergestellt. Ein früher als „Theriak“ bekannter medizinischer Likör enthielt ebenfalls Enzianwurzel.
Verwechslung – Weißer Germer
Der Weiße Germer (Veratrum album) ist dem Gelben Enzian recht ähnlich und stark giftig. Hier besteht Verwechslungsgefahr. Da Gentiana lutea aber aus Gründen des Naturschutzes in Deutschland nicht gesammelt werden darf, sollte dies einer Vergiftung durch Verwechslung vorbeugen.
Enzianstrauch oder Enzian?
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die im Gartenhandel erhältliche Zierpflanze unter der Bezeichung Enzianstrauch (Lycianthes rantonnetii) gehört nicht zu den Enzianen.
Naturheilkunde und Medizingeschichte
Enzian schätzten bereits Ärzte der Antike als Arznei – so empfahl ihn der Arzt und Anatom Galenus als Mittel gegen Gicht. Der Name Gentiana bezieht sich auf den König Genthios von Illyrien (180-168 v. Chr.), welcher das Gewächs als Heilpflanze eingesetzt haben soll.
Der Mediziner und Botaniker Leonhart Fuchs erwähnte die Alpenblume 1543 als Droge gegen Schlangenbisse, Seitenstechen, Knochenbrüche als Folge von Unfällen, tiefe infizierte Wunden sowie innere Verletzungen. Bei tiefen Wunden wurde ein Stück der Wurzel in die Wunde hineingeschoben und sollte dort „reynigen“. Laut Fuchs würde Enzianwurzel Blutgerinnsel ebenso lösen wie Verstopfung.
Er erörtert auch den Nutzen gegen Magen-Darm-Beschwerden. Die heute belegte Wirkung gegen Hautprobleme war Fuchs bekannt: So empfahl er, den Saft der Wurzel auf „allerley ungestalt und befleckung“ aufzutragen.
Sebastian Kneipp, der Erfinder der Kneipp-Therapie, war im 19. Jahrhundert vom Enzian begeistert und sagte, mit Enzian, Wermut und Salbei habe man eine komplette Apotheke.
Ayurveda – Enzian in der indischen Heilkunst
Enziangewächse sind in der indischen Heiltradition Ayurveda weit verbreitet als Medizinpflanzen. Im Ayurveda tragen sie folgende Namen: Girisaanja, Girijaa, Anujaa, Balbhra, Traayamaana und Traayanti.
Vom Aussterben bedroht
Seine medizinischen Wirkungen führten dazu, dass Sammler die Pflanze zur Rarität werden ließen. Gelber Enzian besiedelt kalkreiche Bergregionen in Zentral- wie Südeuropa und Kleinasien. Vor allem finden wir die Staude auf Bergwiesen in Höhen von 750 bis 2500 Metern. Hierzulande steht der wildwachsende Gelbe Enzian heute als gefährdete Pflanzenart der Roten Liste Deutschlands unter Naturschutz und das Sammeln sollte unterbleiben. Gentiana lutea wird kultiviert – auch für die Anwendung als Arzneipflanze.
Enzianwurzel in pflanzlicher Arznei
Enzianwurzel findet sich im pflanzlichen Arzneimittel „Sinupret extract“, kombiniert mit bioaktiven Stoffen aus Ampfer, Holunder, Eisenkraut und Schlüsselblume. Dieses Phytotherapeutikum wird eingesetzt gegen akute Entzündungen im Nasen-Rachen-Bereich.
Wechselwirkungen
Interaktionen von Enzianwurzel mit anderen medizinischen Mitteln sind nicht hinreichend erforscht. Vermutet werden Wechselwirkungen mit Antidepressiva auf pflanzlicher Basis und mit antifungal wirkenden Phytotherapeutika. Enzianwurzel könnte auch auf den Blutzuckerhaushalt wirken.
Gegenanzeigen
Die Bitterstoffe, die die Produktion der Magensäfte stimulieren, haben eine schädliche Wirkung bei Menschen, die unter Magengeschwüren oder Geschwüren im Zwölffingerdarm leiden. Hier verstärken sie die Symptome. Jede Erkrankung, bei der zunehmende Magensäure Schaden anrichtet, verbietet den Einsatz von Enzian. Das gilt auch bei einem Verschluss der Gallenwege sowie bei einer Magenverkleinerung.
Schwangere und Stillende sollten ebenfalls auf das pflanzliche Mittel verzichten, v.a. wegen der in der Wurzel enthaltenen Xanthone.
Nebenwirkungen
Seltene Nebenwirkungen von Enzianprodukten können Kopfschmerzen sowie Magenschmerzen sein, noch seltener kommt es zu Juckreiz oder Herzrasen. (Dr. Utz Anhalt)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
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Wichtiger Hinweis:
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