Knabenkraut ist eine der wenigen einheimischen Orchideen. Historisch war die Pflanze als Potenzmittel begehrt, dies lag aber nicht an medizinisch wirksamen Stoffen, sondern an der Form der Wurzelknollen, die an Hoden erinnern. Traditionell wurden Knabenkräuter unter anderem bei Husten und Durchfall angewandt – heute sollte die gefährdete Pflanzenart nicht mehr als Arzneipflanze genutzt werden.
Inhaltsverzeichnis
Steckbrief
- Wissenschaftlicher Name: Orchis morio
- Volksnamen: Kleines Knabenkraut, Satyrion, Stendelwurz, Narrenkappe, Johannishände, Kuckucksblume, Salep-Knabenkraut, Salepkräuter, Kleine Orchis, Fuchshödlein, Bockshödlein, Geilwurz, Hasenhödlein, Knabenwurz, Storchkraut, Liebeswurz, Nachlaufwurz, Knabenmännlein, Heiratsblume, Heiratskraut, Storchkraut
- Familie: Orchideen (Orchidaceae)
- Verbreitung: Europa, Nordafrika, Westasien bis in den Kaukasus und Iran
- Verwendete Pflanzenteile: Die Knollen
- Inhaltsstoffe: Polysaccharide, Schleimstoffe (Bassorin), weitere Zucker, Eiweiße, Mineralstoffe
- Traditionelle Anwendungsgebiete: bei Husten, Atemwegsentzündungen, Mund- und Rachenentzündungen, Zahnfleischinfektionen, schlecht heilenden Hautwunden, Durchfall (vor allem bei Kindern), zur Stärkung
Eine Übersicht
- Knabenkraut wächst vor allem auf Magerrasen, auch auf trockenen und leicht feuchten Wiesen, in lichten Wäldern und auf Brachflächen.
- Die Orchidee ist in Deutschland vor allem durch Überdüngung im Bestand bedroht. Das Sammeln und Ausgraben dieser geschützten Pflanzenart ist verboten.
- Die beiden Wurzelknollen erinnern optisch an Hoden. Daher stammen Volksnamen wie Hasen-, Bocks- oder Fuchshödlein sowie Knabenwurz. Diese „Hodenknollen“ galten als Mittel, um die Potenz zu steigern und Liebespartner zu gewinnen, deshalb hieß die Pflanze auch Liebeswurz, Geilwurz oder Heiratskraut.
- Auch das griechische Wort Orchis, was sich im lateinischen Gattungsnamen findet, bedeutet „Hoden“ und ebenso sind „Orchideen“ wörtlich genommen „Hodenartige“.
- Das Getränk aus den Knollen wird als Salep, Sachlav oder Saloop bezeichnet und breitete sich vom Osmanischen Reich nach Europa aus.
- In der traditionellen Medizin wurden die Wurzelknollen zum Beispiel genutzt, um Husten, Entzündungen und Durchfall zu lindern. Dies ist auf die enthaltenen Schleimstoffe zurückzuführen.
- Heute werden Knabenkräuter weniger genutzt – auch aufgrund des Bestandrückgangs und des Gefährdungsstatus der Pflanzen. Dennoch nutzen einige Kulturen die Pflanzen weiterhin und tragen somit zu einer größer werdenden Bedrohungssituation der Erdorchideen bei.
Vorsicht: Wenn die Blattrosetten im Frühling bereits fertig ausgebildet sind, der Stängel sich aber noch nicht gebildet hat, lässt sich das Knabenkraut mit der tödlich giftigen Herbstzeitlose verwechseln.
Inhaltsstoffe
Die Wurzelknollen bestehen zu drei Viertel aus Kohlenhydraten in Form von Polysacchariden, dazukommen weitere Zucker, Eiweiße und Mineralstoffe.
Nur ein geringer Teil der Kohlenhydrate ist nahrhaft, der größere Teil der Polysaccharide besteht aus wasserunlöslichem aber gut quellbarem Bassorin. Dieser Schleimstoff lässt sich leicht verdauen und füllt den Magen, er dient als Binde- und Verdickungsmittel.
Wie wirkt Knabenkraut?
Den ovalen Wurzelknollen nachgesagte Wirkungen für die Potenz und sexuelle Anziehungskraft stammten aus Assoziationen zum hodenartigen Aussehen, ihnen liegen aber keine realen Effekte zugrunde.
Medizinisch wirksam ist die Orchidee wegen ihrer Schleimstoffe, ähnlich wie Eibisch oder Malve. Den Pflanzen selbst dienen Schleimstoffe als Energie- und Wasserspeicher.
Die Medizin setzt diese Eigenschaften gezielt ein und nutzt pflanzliche Schleimstoffe, um Reize zu mindern, Husten und Reizhusten zu lindern, trockene und rissige Haut (Hautprobleme) zu befeuchten, Halsschmerzen und Magen- Darm-Leiden zu behandeln. Die in den Wurzelknollen enthaltenen Schleimstoffe werden genutzt gegen Durchfall (besonders bei Kindern), Verstopfung und Entzündungen im Mund- und Rachenraum.
Bei Entzündungen legt sich ein Schleim als heilende Schutzschicht über die betroffenen Stellen, befeuchtet gereizte Schleimhäute und erschwert Erregern in die empfindlichen Partien einzudringen. Eine Studie (2020) zeigte, dass einige Schleimstoffe (Polysaccharide mit Beta-Glucan) Wundheilungen deutlich beschleunigen.
Medizinische Anwendung des Knabenkrauts – Der „Salepschleim“
Die Wurzelknollen der Knabenkräuter sollten nicht nur die Libido entfachen, sondern auch stärkend wirken und eine wichtige Nahrungsquelle darstellen. Der Schleimstoff Bassorin, der „Salepschleim“, galt dabei als wichtigste Substanz.
Man sammelte die Knollen, reinigte und kochte sie. Danach wurden sie getrocknet und auf Schnüre gehängt. Übrig blieben hornartig-transparente Stücke. Diese wurden so als Tubera Salep in Apotheken gehandelt oder zu Pulver zermahlen. Dieses Pulver wurde mit Wasser vermengt, zu “Salepschleim” aufgekocht und gegen Husten, Entzündungen im Mundraum sowie gegen Beschwerden im Magen und Darm getrunken.
Am verbreitetsten war die Einnahme des Schleims gegen Durchfall, der mit Erbrechen verbunden ist. Seit dem 19. Jahrhundert ist diese „Salep-Gallerte“ in zahlreichen pharmazeutischen Werken erwähnt und auch in heutigen Bücher über Heilpflanzen zu finden.
Heute werden Orchideenarten zwar nicht mehr so wie früher als wirksame Heilkräuter angesehen, dennoch finden sich auch heutzutage noch Anwendungen und Knollenorchideen werden weiterhin noch als Lebensmittel oder für medizinische Zwecke geerntet.
Medizingeschichte der „Hodenblume“
Die Medizingeschichte der Knabenkräuter ist weit älter als das 19. Jahrhundert. Sie reicht Jahrtausende zurück. So erwähnte bereits der Arzt Dioskurides im 1. Jahrhundert nach Christus den „Hundehoden“ und zitiert dabei die vermeintlichen Wirkungen auf Geschlechtstrieb und Fruchtbarkeit.
So könne man durch den Verzehr der Knollen das Geschlecht des kommenden Kindes bestimmen. Frauen in Thessalien hätten, laut Dioskurides, die zartere Wurzel zu sich genommen, um die Libido anzuregen, die festere, um sie zu unterdrücken. Auch ließe sich durch den Genuss der einen Wurzel die Wirkung der anderen aufheben.
Der verwandelte Satyr
In der griechisch-römischen Antike wurden die Wildorchideen als Satyrion bezeichnet. Satyre waren Mischwesen aus Menschen und lüsternen Ziegenböcken, die im Gefolge des Fruchtbarkeitsgottes Dionysos den Nymphen sexuell nachstellten. Daher stammten Begriffe wie Satyriasis und Nymphomanie für Menschen mit einem gesteigerten Sexualtrieb.
Im Mythos sollten die Wurzelknollen der Orchideen die Leibspeise dieser sexuell unersättlichen Satyre seien. Mehr noch: Die Knollen sollten die Hoden des geilen Orchis sein, des Sohns eines Satyrs und einer Nymphe, der in ein Knabenkraut verwandelt worden war.
Die „hodenartige“ Form ließ den medizinischen Aberglauben bis in die heutige Zeit bestehen. Vielerorts in Europa, ebenso in der Türkei, im Iran oder in Arabien galten die Knollen als magisches Potenzmittel.
Magische Männerknollen
Da diese vermeintlichen aphrodisierenden Effekte auch von Koryphäen der Medizin verbreitet wurden, galten sie als „belegt“. Die Klostermedizin des Mittelalters zitierte Dioskurides, die frühen Botaniker der Neuzeit orientierten sich an den Schriftquellen der Klostermedizin.
Paracelsus (1493/1494-1541) pries die „Liebesknollen“ gar als Paradebeispiel der Signaturenlehre, nach der (vermeintlich) gleiches mit gleichem behandelt werden kann. Er schrieb: „Secht an die Wurzel Satyrion, ist sie nicht gestalt wie eines Manns Scham? Niemandt kan anderst sagen/ darumb sie durch die Magicam anzeigt und durch die Magica ist erfunden worden/ daß sie den Mannen ihre verlorene Manheit und Unkeuschheit wider bringt.“
Der Naturforscher Conrad Gessner, ein Zeitgenosse Paracelsus erkannte derweil beim Kleinen Knabenkraut: „Die ganze Substanz aller Orchis-Arten scheint nämlich etwas Schaumiges (und wie Sperma-Artiges) zu enthalten.“ Nicht nur die an Hoden erinnernde Form der Knollen, sondern auch der an Sperma erinnernde Schleim scheint die Verknüpfung zur Sexualität befördert zu haben.
Neuer Markt und alte Mythen
Historisch wurden Orchideenwurzeln vielerorts als Nahrung gegessen. Aufgekocht in Wasser, Milch, Wein oder Gemüsebrühe, gaben sie der Landbevölkerung eine Mahlzeit, deren Nährwert allerdings in der Realität gering war.
In der Vermarktung spielt bis heute der Mythos der „Sexknollen“ die wesentliche Rolle. Salep, Salepi, Sahlab gilt in vielen Ländern rund ums Mittelmeer, in Nordafrika und Westasien nach wie vor als Mittel, um „zu stärken“. Dabei lässt sich unschwer erkennen, dass bei der „Stärkung“ nach wie vor die Idee „sexueller Stärke“ Antrieb für die Popularität ist.
In der Türkei und Griechenland werden die meisten Knollen von Wildorchideen verzehrt, aber auch in Albanien, Israel, dem Iran, Jordanien, Ägypten, Libanon oder Syrien.
Alternativen zu Knabenkraut
Medizinisch interessant am Kleinen Knabenkraut sind lediglich die Schleimstoffe. Pflanzliche Schleimstoffe sind jedoch in hohem Ausmaß und mit ähnlicher Wirkung auch in Pflanzen enthalten, die weit weniger bedroht sind als die gefährdeten Orchideen, zum Beispiel im Islandmoos und in Leinsamen, aber auch in Flohsamen, Echtem Eibisch, Wilder Malve, Lindenblüten (Linde), Okra, Spitzwegerich, Lungenkraut, Borretsch, Ringelblumen oder Huflattich.
Knabenkraut als Getränk und Eis
Aus dem Knollenpulver wird auch ein Getränk hergestellt, das im Osmanischen Reich zum Alltag gehörte und sich auch in Europa verbreitete. Dieses bestand ursprünglich aus Ziegenmilch und Knollenpulver und war weit günstiger als Tee oder Kaffee.
Der Schleim des Knabenkrauts hat kaum Eigengeschmack, und das Getränk wurde mit Honig und anderen Aromaträgern versehen. Eine Fertigmischung des Pulvers mit Milch gekocht, wurde als Racahout des Arabes in Frankreich ein Erfolg.
Aus den Wurzelknollen wird auch Speiseeis hergestellt. In Griechenland heißt dieses Kaimaki. In Griechenland und der Türkei sind die Grundzutaten Knabenkraut, Zucker und Milch. Das Eis ist auch deshalb beliebt, da der Schleim es zäh und klebrig macht. Das ist in der heißen Sonne in der Mittelmeerregion gewünscht.
Verbreitung und Standorte
Das Kleine Knabenkraut ist in Europa, Nordafrika, Vorderasien bis zum Iran und Kaukasien verbreitet. Im Tiefland Mitteleuropas tritt es eher vereinzelt auf und in Höhenlagen über 1500 Metern ist es in den Alpen meist nicht vorzufinden.
Knabenkraut wächst vor allem auf Magerrasen, auch auf trockenen und leicht feuchten Wiesen, in lichten Wäldern und auf Brachflächen. Die Orchidee braucht leicht sauren und stickstoffarmen Boden.
An geeigneten Standorten treten auch größere Bestände auf. Im Norden von Deutschland ist die Orchidee nur noch sehr selten zu finden. In Süddeutschland ist die Bestandssituation etwas besser. Die einst häufigste hiesige Orchidee ist durch Überdüngung in ganz Deutschland im Bestand stark bedroht und daher ist das Sammeln oder Ausgraben im Freiland verboten.
Konsum bedroht die Orchideen
Ein aktueller Review (2023) informiert: Die Beliebtheit der Wurzelknollen ist heute zu einer Bedrohung für die Knabenkräuter geworden. Das illegale Sammeln für Medizin, Ernährung und Handel ist die größte Gefahr für Orchideen und das global.
Ein Kilo Pulver aus Knabenkraut hat als Basis 3000 bis 4000 Knollen. Allein in der Türkei werden dabei schätzungsweise rund 30 Tonnen Knollen von 38 Orchideenspezies pro Jahr verarbeitet.
Beim Kleinen Knabenkraut kommen andere Bedrohungen noch hinzu: Landwirtschaft, Dünger, Beweidung, Betonierung / Versiegelung von Flächen und Entwässerung.
Illegales Sammeln bei steigender Nachfrage
Die Nachfrage nach den Wurzelknollen nimmt zu, und zwar ohne, dass das Kleine Knabenkraut kultiviert worden wäre. Der Bedarf wird heute vor allem durch Importe aus dem Iran gedeckt, die aber zumeist illegal sind. Schätzungen belaufen sich auf viele Millionen wild gesammelte Erdorchideen, die jährlich aus dem Iran auf den Markt kommen. (Dr. Utz Anhalt)
Autoren- und Quelleninformationen
Dieser Text entspricht den Vorgaben der ärztlichen Fachliteratur, medizinischen Leitlinien sowie aktuellen Studien und wurde von Medizinern und Medizinerinnen geprüft.
- Miriam Bazzicalupo, Jacopo Calevo, Antonella Smerigilo et al.: Traditional, Therapeutic Uses and Phytochemistry of Terrestrial European Orchids and Implications for Conservation, in: Plants, Volume 12, Issue 2, 257, 46 Seiten, 2023, MDPI
- Rania EL Hosary, Shereen M.S. El-Mancy, Kadriya S. El Deeb et al.: Efficient wound healing composite hydrogel using Egyptian Avena sativa L. polysaccharide containing β-glucan, in: International Journal of Biological Macromolecules, Volume 149, Seiten 1331-1338, 2020, ScienceDirect
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